Wie ich mir mein Leben träume? Am Wasser sitzend. Am See, am Fluss, am Meer – irgendwo. Und ich schaue drauf. Und schaue und mache nichts. Vielleicht bringt mir jemand einen Drink vorbei, aber das muss nicht sein. Und irgendwann wird die Sonne untergehen. Und dann geh ich ins Bett. Und freue mich auf morgen, weil ich dann wieder aufs Wasser schauen kann. Und übermorgen auch. Viel mehr will ich nicht. Und wenn mich jemand fragt, was hast du am Wochenende gemacht, möchte ich sagen können: Ich habe aufs Wasser geschaut.
Ich finde, ich habe mir das verdient. Habe zwei Kinder großgezogen, gearbeitet, Geld in die Familie gebuttert, darauf geachtet, dass das Klopapier nicht ausgeht, mich um meine alte Mutter gekümmert, meistens versucht, zum Abendessen was Gesundes zu kochen. Ich bin in einem Alter, wo es Zeit wird, seine Träume wenigstens ein bisschen wahr werden zu lassen. Mein erster Schritt: Ich habe ein Campingmobil gekauft. Weil ich nicht nur wasser-, sondern auch sommersüchtig bin, wollte ich so ein Auto; nichts Großes, nur dass man schlafen kann darin, und an jedem Sommerabend nach dem Büro wollte ich rausfahren an den See, auf das Wasser schauen, schwimmen, in den Biergarten gehen und dann mit Blick auf das Wasser einschlafen. Wasser ist mein kleines Stück vom Glück. Am Morgen wäre ich früh aufgestanden, geschwommen und wieder in die Stadt ins Büro gefahren. Man wacht ja früh auf in so einem Ding. Und abends alles wieder von vorn. Es wäre ein großer Sommer geworden.
Das Wetter hat nicht mitgespielt. Aber das war es nicht allein. Mein Traum klingt simpel, die Umsetzung ist schwierig: Jeder Firlefanz ist wichtiger als meine Sehnsucht. »Können wir nicht morgen Abend zum Media Markt fahren und heute an den See?« – »Das Sonderangebot gilt nur noch heute, schau doch morgen auf dein Wasser.« Und natürlich war morgen irgendetwas anderes los. Immerhin, ich habe das Campingmobil gekauft, habe die Wochenenden an vielen oberbayerischen Seen verbracht, die Schiebetür des Autos aufgemacht, mich hingesetzt, auf Wasser geschaut. Und auf die wiederkehrende Frage: »Was machst du, wenn dir dabei langweilig wird?«, habe ich geantwortet: »Die Frage ist falsch gestellt. Wenn mich alles andere langweilt, schaue ich aufs Wasser.«
So ging der Sommer vorbei. Und mir wurde beim Schauen auf Wasser eine Menge klar, über mich, mein Leben, meine Wünsche. Nur eines konnte ich mir nicht beantworten: Warum? Was ist so faszinierend daran, Stunde um Stunde den See, die Wellen, die Gischt zu beobachten? Das Hüpfen der Boote, das Spiel der Wasserfarben von Türkis nach Schwarz und Grün und wieder zurück? Lass ein Kind pritscheln, und der Urlaub geht klar. Ich habe fast alle meine Freunde gefragt, und zurück kamen immer zwei Antworten: Es sei die unendliche Weite, die einen beim Anblick des Meeres berühre, und die Ruhe, die das Wasser ausstrahle. Ja, mich macht Wasser auch ruhig. Doch das soll die ganze Antwort darauf gewesen sein? Erklärt das, warum Millionen von Touristen jedes Jahr an die Seen und ans Meer reisen, sich wirklich Reiche Yachten kaufen, andere Segelboote, ich mir ein Tuch am Strand? Warum sind Hotels in der ersten Reihe zum Wasser teurer als die in der dritten, Häuser mit Seeblick teurer als Häuser ohne?
»Ich könnte nicht leben ohne das Meer«
Klar, ein paar Antworten kann man sich selbst schnell geben: weil eine enge Verbindung von Wasser und Mensch herrscht, weil alles Leben im Wasser entstanden ist, weil der Mensch zu etwa drei Viertel, das Gehirn sogar zu achtzig Prozent aus Wasser besteht, weil es Wasser in allen Aggregatszuständen gibt: flüssig, gefroren, als Schnee, als Dampf, weil man ohne Wasser zu trinken schnell stürbe. Aber was genau sagt uns das? Ich beschloss, den Herbst zu nutzen und dieser Frage auf den Grund zu gehen.
Als Erstes habe ich im Archiv der Süddeutschen Zeitung gefragt. Zurück kam eine einzige Seite mit dem handgeschriebenen Hinweis: »Streift am Rande Ihre Fragestellung«. Nicht mal Mare, jene Zeitschrift, die schon im Namen trägt, womit sie sich beschäftigt, ist dieser Frage je nachgegangen. Dann schrieb ich an die Pressestelle von TUI: Sie verkaufen jedes Jahr Hunderttausende von Hotelzimmern mit Meerblick, hat sich bei Ihnen vielleicht jemand Gedanken darüber gemacht, was die Menschen am Blick aufs Wasser so fasziniert? »Leider nein«, lautete die Antwort. Nun mailte ich Christian van Zwamen, 43, der seit zwanzig Jahren zur See fährt und Kapitän des Kreuzfahrtschiffes MS Europa 2 ist. Seine Antwort, die er zwischen Dikili in der Türkei und Myrina in Griechenland schrieb, gab mir zum ersten Mal eine Ahnung: »Mich fasziniert am Wasser, dass es so ambivalent ist. Zum einen macht es die Küste überhaupt erst zur Küste, andererseits ist es für den Seemann das verbindende Element zwischen ihnen. Das Meer schränkt nicht ein, es lässt einem die freie Wahl, welchen Kurs man einschlagen möchte. Es lässt den Seemann aber niemals im Unklaren darüber, wer der Stärkere ist, man kann immer nur mit dem Meer fahren, niemals dagegen. Selbst bei spiegelglatter See zeigt einem die schiere Größe des Ozeans die wahren Verhältnisse, man kann sich selbst nicht mehr so ernst nehmen, wenn man die ungeheuren Ausmaße des Ozeans vor Augen hat.«
Leider erklären die schönen Worte des Kapitäns eines nicht: Auf einen See zu schauen, mag er auch klein sein, ist anders, jedoch fast genauso faszinierend. Gleich, ob an den Ufern des Sees Bäume oder Berge oder Wiesen stehen, der See erzählt eine andere Geschichte als das Meer, er scheint zu sagen: Hier ist Heimat, Geborgenheit, Überschaubarkeit. Manches Mal hat man beim Blick auf den See das Gefühl, er lächle einem zu. Das schafft kein Meer. Was das Meer dagegen signalisiert: Ferne, Sehnsucht, Tiefe, Gefahr, Fremde. Und Unendlichkeit, die vor allem. Oder anders, wie es der frühere DDR-Bürgerrechtler und Politiker Jens Reich in einer Rede über einen toten Freund gesagt hat: Es gibt Dinge, die sind unendlich – das Wasser, der Himmel, die Zeit. Der Preis des Individuums aber ist seine Endlichkeit.
Ich bin gerade im Norden Teneriffas, den Sommer verlängern, aufs Meer schauen. Hinter mir der höchste Berg Spaniens, der Teide, der ist mir egal, vor mir der Atlantik. Seine Wellen brechen 24 Stunden gegen die Felsküste, nicht eine Sekunde davon stört mich. Und keinen anderen der Hotelgäste. César Vargas Martín, 40, macht seit zehn Jahren das, wonach ich mich verzehre: Er sitzt auf einem Hochstuhl vor dem »Hotel Océano« und schaut aufs Meer. Natürlich lautet seine Jobbeschreibung anders: Er muss aufpassen, dass niemand untergeht.
Von meinem Balkon aus sehe ich ihn jeden Tag. Im Sommer sitzt er neun Stunden dort, im Winter, der auf den Kanaren fast ein Sommer ist, sieben. Und jeden Tag, sagt er, schaut er gern auf den Atlantik. Wenn es einen gibt, der erzählen kann, warum der Blick aufs Wasser so eine Faszination ausübt, dann doch er, dachte ich. Aber leider, selbst nach zehn Jahren kann Martín die Faszination nur dürr beschreiben: »Wenn ich das Wasser nicht mögen würde, könnte ich meine Arbeit nicht machen. Ich könnte nicht leben ohne das Meer.« Die Jahre haben ihn viel gelehrt über das Meer, sagt er. »Respekt zum Beispiel. Oder dass man lernen muss, es zu lesen.« César Vargas Martín kann zu einem, der mit Kleidern am Strand steht, sagen: »Die ersten beiden Wellen tun dir nichts, die dritte wird dich nass machen.« Aber warum er das Wasser so liebt, das kann er nicht sagen.
Wasser ist das einzige Element, das alle unsere Sinne positiv anspricht. Wir sehen es gern, wir riechen es gern, wir fühlen es gern, wir hören es gern, wir schmecken es gern
Im Internet stieß ich auf einen US-Blog mit dem hübschen Titel »Stuff White People Like« (Sachen, die weiße Leute mögen). Lämmer zählen dazu, Sushi oder Himalajasalz. Und Häuser am Wasser. Sie werden beschrieben als Inbegriff der Sehnsucht reicher Weißer, und immer gehörten zu ihren Schwärmereien ein Liegestuhl und ein Buch. Da fühle ich mich ertappt: Bloß einer wohlhabenden Weißen wie mir, die im 20. und 21. Jahrhundert in einer geschützten Ecke der Welt lebt, kann das Wasser Freund sein. Ich brauche es nur zu meinem Vergnügen, zum Segeln, Schwimmen, um auf Kreuzfahrt zu gehen. Ein Krieg auf hoher See ist so weit weg von mir wie somalische Piraten oder ein Tsunami; die kenternden Boote afrikanischer Flüchtlinge sehe ich betroffen in den Nachrichten, aber nicht auf meinem Strandtuch. Wir reichen Weißen glauben nicht mehr an Götter und Ungeheuer, die im Wasser wüten. Nicht einmal Fische muss ich dem Meer täglich abringen, um mein Überleben zu sichern. Und so konnte ich immer weiter träumen.
Dann kam mir Wallace J. Nichols’ Buch Blue Mind in die Finger, das in diesem Sommer die Bestsellerliste der New York Times eroberte. Nichols ist Meeresbiologe, und weil er wusste, dass Wasser beim Mensch eine Art Reflex auslöst, jenseits aller Erklärbarkeit, beschloss er, zusammenzutragen, was die Naturwissenschaften bisher über unsere Beziehung zum Wasser herausgefunden hatten. Das auf den ersten Blick ernüchternde Ergebnis: Es gibt sie nicht, die eine, die allumfassende Antwort, und die simple schon gar nicht. Aber es gibt Dutzende unterschiedlicher Antworten. Unsere Verbundenheit zum Wasser ist so komplex, weil es tief in unserem Unbewussten verankert ist, erklärt Nichols, noch vor der Evolution entstanden, es trifft Bereiche im Hirn, die nur Neurologen messen können, jenseits aller Wahrnehmung. Und es ist dieses ewige Weltwissen, das wir alle mit uns herumtragen, bewusst wie unbewusst: dass es ohne Wasser kein Leben gibt, und zwar gar keines. Trotzdem hat man natürlich Leute verdrahtet und gesehen, in wie tiefe Schichten man damit vordringt. Man stellte fest, dass wirklich jeder eine Beziehung zum Wasser hat, und sei sie negativ. Niemandem ist sie gleichgültig.
Englische Forscher der Plymouth Universität, die Nichols zitiert, haben vor ein paar Jahren Studenten Fotos von Landschaften und Städten vorgelegt mit der Bitte, zu beurteilen, wie sie ihnen gefielen. Es gab zwei Runden. In der ersten wurden den Studenten nur Bilder gezeigt, auf denen kein Wasser zu sehen war, weder auf dem Land noch in den Städten. In der zweiten Runde war fast auf jedem Bild Wasser, mal mehr, mal weniger. Doch selbst wenn nur am Rand des Fotos ein Brunnen stand, gaben alle Studenten den Fotos mit Wasser bessere Noten als allen Fotos ohne Wasser. Nächstes Beispiel: Wasser ist das einzige Element, das alle unsere Sinne positiv anspricht. Wir sehen es gern, wir riechen es gern, wir fühlen es gern, wir hören es gern, wir schmecken es gern. Dann zitiert Nichols einen anderen Autor, John Jerome, der in seinem Buch Blue Rooms schreibt, dass in Zeiten wie diesen, die zunehmend von Zukunftsangst, Stress und dem Verlust der Privatsphäre geprägt seien, der eine Moment, in dem man in Wasser eintaucht, existenziell sein kann. »Dann bin ich vollkommen allein mit mir und dem Wasser.«
Und bevor ich mir Nichols’ Buch schnappe und es an der Küste des Atlantiks ein zweites Mal lese, so spannend ist es, muss ich einen Satz daraus zitieren, den der Lyriker W.H. Auden schrieb und der meine Gedanken am Wasser noch viele Stunden beschäftigen wird: »Tausende haben ohne Liebe gelebt, aber keiner ohne Wasser.« Wäre das nicht eine der grausamsten Fragen, die einem jemand stellen könnte: Wofür würdest du dich entscheiden – Liebe oder Wasser?