Als Merle-Haggard-Fan steht man in Deutschland auf verlorenem Posten. Umso erfreuter war ich, beim Münchner Filmfest einen Dokumentarfilm über den Sänger zu entdecken. Merle Haggard – Learning To Live With Myself ist das Werk des deutschen Regisseurs Gandulf Hennig, der vor einigen Jahren bereits den tollen Film Fallen Angel: Gram Parsons gemacht hat. Anders als Parsons lebt Haggard aber noch und hat Hennig für den Film exklusive Einblicke in sein Leben gewährt. Der Film enthält etliche bewegende Interviewpassagen mit Haggard, aber auch Konzertaufnahmen, historisches Material und viele Statements berühmter Fans und Kollegen. So entsteht ein präzises und sehr bewegendes Bild eines der letzten großen Individualisten der amerikanischen Rootsmusik. Am Dienstag, den 7. September, läuft Merle Haggard – Learning To Live With Myself um 23.20 im BR, letzte Woche hatte ich Gelegenheit, mit Gandulf Hennig über seinen Film zu reden.
Kaum jemand in Deutschland kennt Merle Haggard. Wie wollen Sie beim hiesigen Publikum Interesse für diese Figur wecken?
In den USA ist Haggard eine Ikone, aber bei uns in Deutschland ist er sicher eher einem kleineren Publikum bekannt. Dennoch hoffe ich natürlich, dass der Film auch hierzulande sein Publikum finden wird. Ich habe schließlich versucht, einen Film zu machen, der eine gewisse universelle Wahrheit erzählt – die Geschichte eines Menschen, der auf der Suche nach sich selbst ist und der von Ereignissen in seinem Lebens verfolgt wird, die ihn daran hindern, glücklich zu sein.
Im Juli lief der Film im amerikanischen Fernsehen. Wie waren die Reaktionen?
Geradezu überwältigend. Da musste ich mich erstmal setzen. Der Film wurde in vielen Medien besprochen, von Variety bis zur New York Times, und fast überall gefeiert.
Merle Haggard gilt als sehr eigenwilliger Charakter. Wie haben Sie ihn überhaupt dazu bewegt, bei dem Projekt mitzumachen?
Mir hat geholfen, dass ich einen Film über den Countryrock-Pionier Gram Parsons gemacht habe. In erster Linie war es aber Penetranz. Ich habe einfach nicht locker gelassen.
Das zentrale Ereignis von Merle Haggards Biographie ist sein Gefängnisaufenthalt: Ende der Fünfziger wurde er nach einer Serie von kleineren Vergehen in San Quentin inhaftiert. Was hat er ihnen darüber erzählt?
Im Film schildert er, wie er abends dort ankam und zusammen mit den anderen Neuankömmlingen an den Zellen vorbeigeführt wurde, in denen die Häftlinge pfiffen und Dinge wie »Frischfleisch« riefen. Er hat kein Hehl draus gemacht, dass er große Angst hatte. Er kommt aus einer Generation und aus einem sozialen Umfeld, wo man seine Gefühle nicht offen vor sich herträgt, aber in diesem Fall hat er gar nicht versucht, sich als harten Kerl darzustellen.
Ein Indiz dafür, wie traumatisch diese Erfahrung gewesen sein muss.
Meine Lieblingsszene ist, wie er bei sich zu Hause auf dem Sofa sitzt und erzählt, was ihm in den Jahren 1972/73 alles Gutes wiederfuhr. Da hat er zum Beispiel im Weißen Haus gespielt und von Ronald Reagan, damals Gouvernour von Kalifornien, eine komplette Begnadigung für seine Vergehen erhalten. Er sitzt er also auf dem Sofa und sagt:m »This is my greatest award«. Dann blickt er auf den Boden und schweigt. Da wurde mir klar: Diese Wunde wird niemals heilen. Alle Erfolge können nicht die Scham tilgen, die er für das empfindet, was er als junger Mann verbrochen hat.
»Für seine stärkste Zeit halte ich die späten Siebziger und frühen Achtziger. Da ist er in einer schweren Midlife-Crisis, und macht die intensivsten Platten seiner Karriere«
In Ihrem Film kommt eine lange Reihe berühmter Unterstützer zu Wort, von Countrysängern wie Kris Kristofferson und Ray Price bis zu Keith Richards und dem Schauspieler Robert Duvall. Wie haben Sie die alle vor die Kamera bekommen?
Mir hat natürlich geholfen, dass Haggard so viele Bewunderer unter anderen Künstlern hat. Etliche dieser Künstler hatte ich auch schon einmal interviewt. Aber bei Duvall war es reiner Zufall. Ich wollte ihn gerne sprechen, es gab aber keinen Weg, ihn zu kontaktieren, weil er keinen Agenten mehr hat. Ich war dann in Los Angeles, um mit Dwight Yoakam zu drehen, da stehe ich auf einem Studiogelände und eine schwarze Limousine fährt vor – Robert Duvall steigt aus, ungefährt einen Meter von mir entfernt. Ich bin gleich zu ihm hingegangen, total unprofessionell, und habe gesagt, dass ich ihn gerne zu Merle Haggard interviewen würde.
Gab es jemand, den sie gerne gehabt hätten, aber nicht bekommen haben?
Bob Dylan. Der hat zwar nie »nein« gesagt, aber immer »nicht jetzt«. Er ist großer Verehrer von Merle Haggard, aber er macht so etwas eigentlich nicht.
Haggard hat ungefähr achtzig Platten gemacht. Welche ist Ihr Favorit?
Ich mag fast das ganze frühe Capitol-Records-Zeug, aber für seine stärkste Zeit halte ich die späten Siebziger und frühen Achtziger. Da ist er auf dem Gipfel seines Erfolgs, aber in einer schweren Midlife-Crisis, und macht die intensivsten Platten seiner Karriere. Mein Lieblingsalbum heißt: Serving 190 Proof.
Interessant, dass Sie diese Phase ansprechen. Meine Lieblingsplatten von ihm stammen aus derselben Zeit: Rainbow Stew und Back To The Barrooms.
Serving 190 Proof und Back To The Barrooms wurden beide von Jimmy Bowen produziert, der wahrschienlich mehr Platten verkauft hat als jeder andere in der Countrymusik. Als junger Mann hat er mit Sinatra »Strangers In The Night« gemacht, dann ging er nach Nashville und hat die Countrymusik modernisiert. Dank ihm hat Merle auf diesen beiden Platten einen knackigen Sound, ganz anders als die eher klassisch-schlicht produzierten Platten mit den Strangers. Zwei wirklich fantastische Alben.
Ich finde, in den Achtzigern glänzt er dann insbesondere bei den Balladen, bei Songs wie »Chill Factor« und »To All The Girls I’ve Loved Before«.
An den Achtigern fasziniert mich, wie sich sein Gesang verändert. Im Bariton, in den etwas tieferen Lagen, findet er zu einem etwas raueren, gebrochenen Stil. Vollkommen einzigartig.
Wie viel von seiner musikalischen Klasse ist heute noch übrig?
Die Stimme ist immer noch da. Warum, das weiß ich nicht, sie haben ihm schließlich einen großen Teil der rechten Lunge herausgenommen. Er wird schnell müde, aber sobald er auf die Bühne geht, legt er einen Schalter um. Ich glaube, es hält ihn am Leben, dass er noch hundert Abende im Jahr auftreten kann.
Werden solche Figuren wie er, George Jones oder Willie Nelson nachwachsen? Oder ist eine Ära vorbei, wenn die mal gestorben sind?
Mit ihm auf Tour zu gehen, hat mich melancholisch gemacht. Merle Haggard kümmert sich nur um die Musik, Dinge wie Merchandising, mit denen die meisten Acts heute viel Geld machen, sind ihm total egal. Bei ihm gibt es keine Setlist, sondern jeden Abend ein neues Programm, und die Band muss auf den Zehen stehen, um zu wissen, welcher Song als nächster kommt. Diese selbstverständlich, liebevolle Art, Musik zu spielen, wird irgendwann weg sein. Die sehe ich nirgendwo sonst, zumindest bei niemandem, der so bekannt und erfolgreich ist wie er.
Ist es nicht verwunderlich, dass er trotz seiner Klasse nie so richtig aus der Countryszene herausgekommen ist?
Er hat nicht diesen Crossover-Appeal, den Johnny Cash am Ende seiner Karriere hatte, das stimmt. Aber er will das auch nicht. Er will keine Platte mit Rick Rubin machen. Er macht alles genau so, wie er möchte. Im Lauf seiner Karriere hat er sich deshalb häufig in den Fuss geschossen, aber, wie Jason Fine im Rolling Stone sagte, es war sein eigener Fuss.
Durchaus eigenwillig scheint auch sein Anwesen in Nordkalifornien zu sein, von dem Sie im Film Bilder zeigen. Dort sieht es ziemlich rumpelig und verwildert aus, nicht so, wie man es bei einem erfolgreichen Plattenstar erwarten würde.
Das freut mich, dass das rüberkommt! Genauso war es. Aber das ist nicht vernachlässigt – er mag das so. Er besitzt 70 Hektar, ein richtig großes Grundstück. Da stehen verfallene Häuser drauf. Sie haben erst in dem einen Haus gewohnt, dann war da Schimmel an der Wand, dann sind sie in ein anderes Haus auf dem gleichen Grundstück gezogen. Er hat jemand, der manchmal den Rasen mäht, aber im Prinzip lässt er alles wachsen und findet das auch gut. Die Tiere aus der Umgebung flüchten auf sein Grundstück.
Er ist der totale Antipode zum Showbiz-Glamour.
Keith Richards sagt in dem Film, dass es eine gewissen Klasse von Künstlern gebe, die das alles nicht wegen des Ruhms mache, sondern aus Liebe zur Musik. Solche Leute finden es sogar eher unappetitlich, wenn sie sich lange mit dem Musikgeschäft und seinen Vertretern beschäftigen müsen. Was bei jemand wie Haggard noch mehr dazu führt, dass er sich in seine Welt zurückzieht, die nur aus Familie und Musik besteht.
Gab es während der Dreharbeiten einen Moment, wo Sie sich richtig über ihn geärgert haben?
Einen? Ich habe graue Haare bekommen! Merle ist zwar nie fies geworden, aber nicht selten hat er einfach dicht gemacht. Wir sitzen auf gepackten Koffern mit der Crew und wollen nach Kalifornien fliegen, am Abend vorher kommt kurz vor Mitternacht ein Anruf: »Merle will nicht, dass ihr kommt.« So war das oft mit ihm: Er hat uns bis ganz zum Schluss im Unklaren darüber gelassen, ob er jetzt mitmacht oder nicht. Das war oft frustierierend, aber das macht auch den Reiz aus. Künstler, die bereitwillig ihre Nase in die Kamera halten, finde ich nicht so interessant.