Die Rahmendaten dieser Edition sind rekordverdächtig. Zwölf CDs mit insgesamt 282 Stücken sind erschienen, die Booklets sind zusammengerechnet über 600 Seiten dick, und der musikalische Bogen, den die Stücke spannen, reicht von 1899 bis 2005, umfasst als fast die komplette Ära der Tonaufzeichnung. Und all das für den deutschen Jazz? Rechtfertigt diese musikhistorische Randerscheinung überhaupt einen solchen Aufwand?
Wer auf den CDs nach dem deutschen Louis Armstrong oder Miles Davis sucht, wird in der Tat nicht fündig werden; unter den unzähligen obskuren Musikern, denen die Herausgeber Horst Bergmeier und Rainer Lotz hier ein Denkmal setzen, ist kein vergessenes Genie, das den Jazz einst in einem Keller in Düsseldorf neu erfunden hat. Aber darum geht es auch gar nicht. Es geht vielmehr darum, genau nachverfolgen zu können, wie sich deutsche Musiker mit den neuen musikalischen Ideen aus Amerika auseinandergesetzt haben, wie sie lernten, Foxtrot und Swing zu spielen, wie sie sich an Bebop, Free Jazz und Acid Jazz versuchten und ihr Heil manchmal doch im Dixieland fanden. Da diese Auseinandersetzung schon zur Kaiserzeit begann, spiegelt die Edition Der Jazz in Deutschland die komplette Geschichte des Jazz mit den meisten seiner Unterformen – und diesen historischen Verlauf einmal nicht durch die amerikanische, sondern durch die deutsche Brille zu betrachten, ist von Anfang bis Ende ausgesprochen faszinierend.
Die wenigen Stars, die der deutsche Jazz hervorgebracht hat, sind natürlich dabei: Rolf und Joachim Kühn, Wolfgang Dauner, Albert Mangelsdorff, Gunter Hampel, Peter Brötzmann. (Einzig Till Brönner fehlt, anscheinend wegen Lizenzproblemen.) Auch Musiker wie Max Greger, Caterina Valente, Freddy Brocksieper und Helmut Zacharias sind vertreten, dazu natürlich die bekannten Kapellmeister aus den Zwanzigern und Dreißigern: Marek Weber, Oscar Joost, Kurt Widmann, Benny de Weille, Teddy Staufer.
Doch die wahre Leidenschaft der Herausgeber gehört unzweifelhaft jenen Musikern, an die sich außer ein paar Plattensammlern niemand mehr erinnert. Oft schwingt jene ferne Zeit, als der Jazz Inbegriff cooler, rebellischer Attitüde war, schon in den Namen der Künstler und Ensembles mit. Ein Bassist namens T-Bone Lewandoski, ein Schlagzeuger namens Shorty Langenbach – solche Leute müssen doch einfach gute Musik machen, oder?! Wer kann sich dem Sog entziehen, den Namen wie Orchester Fips Fleischer, Orchester Ben Berlin, Tanzorchester Fud Candrix oder James Kok's Jazz Virtuosen ausüben? Wer war Ernst "Bimbo" Weiland, der am 21. Februar 1943, vor genau 66 Jahren, in Berlin das Stück "Trommelei" aufnahm. All diese Musiker waren vergessen, nun sind sie es nicht mehr.
Ich habe alle CDs inzwischen mehrmals gehört, stets mit Gewinn. Gut, wer keinen Free Jazz mag, wird auch deutschen Free Jazz nicht goutieren, aber das musikalische Material dieser Edition ist so reichhaltig, dass man stets umgehend zu neuen musikalischen Eindrücken und Erkenntnissen gelangt.
Zu meinen Favoriten gehören CD 7, die dem Dixieland-Revival gewidmet ist, sowie CD 8: "Der moderne Jazz in der DDR". Ganz besonders faszinierend finde ich jedoch die CDs 1 bis 4, die die Periode von 1899 bis 1939 umfassen und das Bild einer musikalischen Ära zeichnen, die in mancher Hinsicht lebendiger war als unsere müden Nullerjahre.
Den Herausgebern Rainer Lotz und Horst Bergmeier kommt das Verdienst zu, die Musik dieser Zeit dem Staub der Achive entrissen zu haben. Über die faszinierende Frühgeschichte des deutschen Jazz habe ich ein ausführliches Gespräch mit Rainer Lotz geführt, das ich in Kürze posten werde. So möchte ich abschließend nur noch darauf hinweisen, dass die Edition Der Jazz in Deutschland auch grafisch gelungen ist, dank der tollen Arbeiten des Illustrators Robert Nippoldt, der bereits mit dem Buch Jazz im New York der wilden Zwanziger (Gerstenberg-Verlag) bewiesen hat, wie gut er diese Musik versteht.
Der Jazz in Deutschland, vier Digipacks mit jeweils drei CDs und ausführlichem Booklet, Bear Family Records.