»Jeder der Funk Brothers war gut, aber Jamerson war einzigartig«

Der Produzent und Talenscout Mickey Stevenson über seine Zeit bei Motown, die Fähigkeiten des Plattenbosses Berry Gordy und die besondere Gabe des Bassisten James Jamerson.


William »Mickey« Stevenson, Martha Reeves, Sylvester Potts von den Contours und der frühere Motown-PR-Chef Al Abrams (von links) feiern das 50. Jubiläum des Labels im Hotel Estrel in Berlin.

Foto: Hotel Estrel

Kaum jemand war in der Frühphase von Motown so wichtig für den Erfolg der Firma wie William »Mickey« Stevenson. Als Produzent und A&R-Chef kümmerte er sich um den Sound, die Songs und die Künstler von Motown. Zusammen mit Berry Gordy entdeckte und entwickelte er zahlreiche Talente – Grund genug für Smokey Robinson, ihm in dem Song »Mickey's Monkey« ein Denkmal zu setzen. Nach einer Dekade aufopferungsvoller Arbeit wollte er 1969 von Berry Gordy einen Anteil an Motown. Gordy sagte nein – Stevenson verließ das Label und ging zu MGM. Den Erfolg seiner Motown-Zeit konnte er jedoch nicht wiederholen. Anläßlich der Show "Memories Of Motown" war Mickey Stevenson vor kurzem in Berlin.

William Stevenson, unter den vielen Motown-Klassikern, die Sie geschrieben und produziert haben, ragt einer heraus: »Dancing In The Street«. Wie ist dieser Song entstanden?
Ich habe ihn zusammen mit Marvin Gaye und Ivy Jo Hunter geschrieben. Eigentlich war er für Kim Weston gedacht.

Damals Ihre Ehefrau, richtig?
Ja, und ich hatte ihr einen Song versprochen. Alle anderen Motown-Künstler haben damals gute Songs gekriegt, nur Kim nicht. Marvin, Ivy Jo und ich haben im Studio an dem Song gearbeitet. Als wir fertig waren, haben wir die Musik aufgenommen, ohne Gesang. Ich habe überlegt, wie ich Kim den Song beibringen kann, er entsprach nämlich nicht unbedingt ihrem Stil. »Dancing In The Street« ist ein schnelle, mitreißende Nummer, Kim hatte eher eine Balladenstimme. Martha Reeves war zufällig im Studio und ich habe mir überlegt, dass sie eine Demoversion des Songs aufnehmen soll, damit Kim ihn lernen kann. Während Martha im Studio steht und den Song singt, schauen Marvin, Ivy Jo und ich uns an: Wir haben sofort gemerkt, dass der Song einfach wie geschaffen für Martha ist – ein Hit. Danach hatte ich natürlich Ärger mit Kim.

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Sie haben den Song zusammen mit Marvin Gaye und Ivy Joe Hunter geschrieben. Wie hat man sich diese Kollaboration genau vorzustellen?
Wir saßen zusammen ums Klavier herum. Ivy Jo hatte immer gute Grooves parat und ich eigentlich auch. Wir haben Ping Pong mit unseren Ideen gespielt, jeder hat ein paar Zeilen beigesteuert. Deswegen kann man heute nicht mehr sagen, von wem welcher Part kam. Es ist nicht leicht, so zu komponieren, weil man sein Ego zurücknehmen muss. Viele Komponisten wollen ihre besten Zeilen nicht mit anderen teilen oder meinen, den anderen überlegen zu sein.

Bei Motown muss zu dieser Zeit ein sehr kollaborativer Geist geherrscht haben.
Ganz genau. Dass alle zusammengearbeitet haben, war eine der speziellen Gaben dieser Firma, Wir hatten kleine Proberäume, wo die Leute saßen und komponiert haben. Ständig ist dort jemand reingekommen und hat gesagt: Probiers doch mal so, mach hier einen Chorus. Ich bin ständig unterwegs gewesen zwischen den Proberäumen oben, wo die Leute komponiert haben, und dem Studio unten, wo die Aufnahmen stattfanden. Es war fast surreal. Wie eine Fabrik. Aber eine Liebesfabrik. Ich habe später bei anderen Firmen gearbeitet, aber so etwas habe ich nie wieder erlebt.

»Ich habe nur Künstler unter Vertrag genommen, die einen unbedingten Siegeswillen hatten und bereit war, alles andere für ihre Karriere zu opfern«

Wie lange haben Sie für »Dancing In The Street« gebraucht?
Wir haben den Song in einer Nacht geschrieben und am nächsten Tag aufgenommen.

Hing diese hohe Produktionsgeschwindigkeit auch damit zusammen, dass Berry Gordy so ein Antreiber war?
Berry Gordy ist ein Mensch, der dich mit seiner Energie anzustecken vermag. Das habe ich schon gemerkt, bevor ich überhaupt bei Motown angefangen hatte. Den Job als A&R-Mann, den er mir anbot, wollte ich eigentlich gar nicht. Ich war Musiker und wollte selbst für Motown aufnehmen! Aber Berry hat mich in Windeseile überzeugt, musikalischer Leiter von Motown zu werden. Ich habe versucht, jene Energie, die ich von Berry bekommen hatte, auf die Künstler zu übertragen. Und ich habe nur Künstler unter Vertrag genommen, die einen unbedingten Siegeswillen hatten und bereit war, alles andere für ihre Karriere zu opfern. Das war sehr wichtig.

Entscheidend für den Erfolg von Motown waren die Funk Brothers. Sie haben die Motown-Hausband zusammengestellt. Wie haben Sie diese großartigen Musiker gefunden?
Ich war in Detroit als eine Art Agent tätig und kannte sehr viele Musiker; das war einer der Gründe, warum Berry mich geholt hat. Nachdem er mich unter Vertrag genommen hatte, gab er mir den Auftrag, eine Band zusammenzustellen, die bereit war, uns auf unserem Weg zu begleiten, obwohl wir damals nicht viel Geld hatten. Ich habe also Musiker angesprochen, die ich kannte und die mir vertraut haben.

Darunter waren viele Jazzmusiker, richtig?
Ich war selbst Jazzer! Ich habe mit Lionel Hampton gespielt und danach in einer Gruppe namens The Hamptones gesungen. Mit denen bin ich in einigen der bekanntesten Nachtclubs der Welt aufgetreten.

Jazzmusiker gelten als besonders gute Instrumentalisten.
Ich hatte ein Problem mit den Jungs: Ich bin Jazzmusiker, haben sie gesagt. Du bist Musiker, habe ich erwidert. Also spiele R&B, aber ohne deine Fähigkeiten unter den Tisch fallen zu lassen. Ich musste das selbst lernen. Ich war eigentlich kein R&B-Autor, sondern habe Balladen und ähnliches komponiert.

Erzählen Sie vom Bassisten James Jamerson.
Er war einzigartig. Jeder der Funk Brothers war gut, aber Jamerson war einzigartig. Wenn ein Produzent ihm ein Basslinie gegeben hat, hat er sie zuerst einfach nachgespielt. Dann hat er gefragt, kann ich das und das hier machen, und er hat etwas mehr Farbe, etwas mehr Groove reingebracht. Irgendwann habe alle Produzenten nur noch gesagt, frag nicht, mach es einfach. Hier sind die Akkorde, jetzt gib mir eine Dosis Jamerson.

Er hat seine Basslinien selbst entwickelt.
Genau. Die anderen Musiker haben sich alle an ihm orientiert – und dann hat es zu kochen angefangen.

Der Sound der Funk Brothers hat noch immer etwas Magisches.
So etwas gab es nie wieder. Aber meiner Meinung nach war es kein Zufall, dass sich dieser Sound zu dieser bestimmten Zeit entwickelte. Ich glaube, dass wir Teil eines größeren Plans waren. Die USA waren damals ein schrecklicher Ort, besonders für Afro-Amerikaner. Unsere Musik wuchs und wuchs – und handelte dabei nicht von unserer Hautfarbe, sondern wurde von allen einfach als Musik wahrgenommen. Für mich hat das etwas Göttliches.