Meine Angst vor dem Erblinden

Wir stellen Ihnen jede Woche junge, talentierte Fotografen vor. Diesmal: Emanuele Lami, der blinde Menschen in Südafrika begleitet hat und mit seiner Kamera durch den römischsten Kiez Berlins zog: den "Kotti".

    Name: Emanuele Lami
    Jahrgang: 1983
    Ausbildung: Neue Schule für Fotografie, Berlin
    Webseite: http://www.emanuelelami.com />


    SZ-Magazin:
    Sie sind in Rom geboren: Unterscheidet sich Fotografie in Italien von der in Deutschland? Gibt es verschiedene Stile? Emanuele Lami: Es gibt zwar Ausnahmen, aber die Fotografie-Stile unterscheiden sich natürlich, genauso wie sich Italiener von Deutschen unterscheiden. In Italien wirken die Aufnahmen "schmutziger": Es wird dabei stärker auf einen bestimmten Lichteffekt geachtet als auf eine perfekte Komposition. Die Abbildung von Personen steht dort im Vordergrund, und nicht die Objektfotografie. Deshalb hat der Fotojournalismus immer noch eine dominante Position in der italienischen Fotografieszene – auf Kosten der Kunstfotografie. In Deutschland ist es meines Erachtens genau umgekehrt: Hier besteht eine starke künstlerische Tradition. Man legt besonderes Augenmerk auf die Geometrien, die Zusammensetzung und die Sauberkeit des Bildes. Seit ich in Berlin lebe habe ich Hunderte Fotos von unzähligen geometrischen Freiflächen gesehen – fast leblos. Und ich kann nicht leugnen, dass ich mich dabei oft gelangweilt habe. Andererseits ist es schön, diese Verschiedenartigkeit zu beobachten und zu versuchen, sie zu verstehen.

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    Erzählen Sie uns kurz, wie es zu der Fotostrecke “i am blind” gekommen ist. Wen haben Sie fotografiert, wie kam es zu der Idee, wie waren die Umstände vor Ort?

    Es begann im Jahr 1992. Damals war ich acht Jahre alt und besuchte mit meiner Schulklasse in Rom eine Ausstellung, bei der es um die Sensibilisierung gegenüber Blindheit ging. Es gab dort einen großen Kubus, der in seinem Inneren komplett dunkel war. Blinde Menschen führten uns in diesen Raum - und dort wurden verschiedene Tätigkeiten simuliert: das Überqueren einer Straße, das Trinken eines Glas Wassers in einem Cafè, oder ein Spaziergang in einem Park – mit all den Schwierigkeiten, die sich aus der plötzlichen Blindheit ergeben. Ich war davon so schockiert, dass die Blindheit eine der größten Ängste meiner Kindheit wurde. Als Erwachsener wollte ich diese Angst bewältigen. Also versuchte ich als Fotograf, das tägliche Leben eines Blinden visuell darzustellen, mit all seinen Schwierigkeiten und Herausforderungen. Ich habe mich entschieden, dieses Projekt in Südafrika zu realisieren. Nach Schätzungen der "International Agency for the prevention of blindness“ , gibt es auf der Welt 314 Millionen blinder Menschen, 90% davon leben in Entwicklungsländern. Südafrika ist ein Entwicklungsland, gleichzeitig ist es von sehr starken sozialen Unterschieden geprägt. Ich habe einige exzellente Orte gefunden, und es war eine große Freude, mit Jugendlichen zu arbeiten, die einen großen Teil ihres Lebens damit verbringen, anderen Menschen beizustehen.

    Hat Fotografie die Kraft, etwas an Missständen zu ändern? Also etwa die Haltung der Öffentlichkeit zum Thema Behinderung zu beeinflussen?

    Ich würde gerne glauben, dass man mit der Fotografie die Welt ins Bessere verändern kann. Das war ein Credo von unzähligen Fotoreportern im Laufe der 60er und 70er Jahre. Aber "Historia Magistra Vitae": Im Lauf der Jahre sind unzählige Bilder von unsäglichen Gräueltaten entstanden. Zahlreiche Fotografen sind bei den Aufnahmen solcher Fotos gestorben. Doch die Menschen führen nach wie vor Kriege. Dies ist es, was uns die Geschichte lehrt. Dennoch glaube ich fest daran, dass die Fotografie ein mächtiges Werkzeug ist, um das menschliche Bewusstsein am Leben zu erhalten. Wie einst James Nachtwey, sagte: "The strenght of photography lies in its ability to evocue a sense of humanity." Solange die Fotografie sich verpflichtet, die Ängste, Leiden und Ungerechtigkeiten in der Welt darzustellen, wird sie dazu beitragen, das Gewissen der Menschen zu sensibilisieren, sodass die Hoffnung auf bessere Tage nie verblassen wird.

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    Zu Ihrer Serie “Kotti”: Warum interessiert Sie dieser Berliner Stadtteil rund um das Kottbusser Tor mehr als andere?

    Ich definiere Berlin als Megalopolis auf menschlicher Ebene. Ihre vielen Grün- und Freiflächen verleihen der Stadt eine große Ruhe und eine hohe Lebensqualität. Kotti ist genau das Gegenteil: Die Straßen sind klein, laut, chaotisch und schmutziger als andere. Die Ordnung und die Struktur, typisch für andere Teile von Berlin, weicht hier dem Zufall und der Unberechenbarkeit. Ich bin in Rom geboren und aufgewachsen, einer der chaotischsten Städte der Welt. Am Kotti habe ich mich deswegen sofort zu Hause gefühlt. Außerdem fand ich es extrem spannend zu sehen, wie eine große Anzahl von ethnischen und sozialen Kulturen auf eine solch friedliche Art und Weise zusammen leben kann.

    Was hat Sie beim näheren Kennenlernen der Menschen dort überrascht?

    Die Toleranz. Es kann ohne Toleranz keinen Frieden zwischen unterschiedlichen Kulturen geben. Daraus entsteht dann der gesamte Rest.

    Wie reagieren Muslime auf Fotografie? Anders?

    Ich habe nicht die Erfahrung gemacht, dass die in Berlin lebenden Muslime Probleme damit haben, sich fotografieren zu lassen. Ich glaube nicht, dass die Religion ein begründender Faktor ist, vor allem nicht in einer Stadt wie Berlin.

    Ihr Projekt ist fortlaufend – bis zu welchem Ziel?

    Bis sich mein Wunsch erschöpft hat, Neues zu suchen und zu entdecken.

    Welches Projekt wird Ihr nächstes sein? Schon Ideen?

    Das nächste Projekt ist bereits am Laufen, es ist eine Arbeit über die italienische Gemeinschaft in Berlin, in Kooperation mit dem Kulturinstitut der italienischen Botschaft. Die Arbeiten werden im Laufe des Monats der Fotografie im Herbst diesen Jahres in den Räumen des Kulturinstituts ausgestellt. Die Auswanderung ist ein charakterisierendes soziales Merkmal von Italien. Die Serie wird als Einführung für ein Programm anlässlich des 150. Jahres der Einheit Italiens dienen, das 2011 an dem Institut stattfindet.