Neulich stand ich mit Freund Thomas am Tresen. Erst blickten wir eine Weile stumm auf unser Bier, dann stumm auf den Putz hinter der Theke. Alles Wichtige war gesagt, alles Unwichtige musste nicht gesagt werden, so sind wir Jungs manchmal. Schließlich blickten wir durch das Schaufenster der Bar nach draußen, wo die Raucher standen. Sie rauchten, was sonst, Thomas musterte sie. Nahm einen Schluck Bier, dann sagte er etwas: »Wenn ich diese Kids sehe, wie sie mitten im Winter mit hochgekrempelten Hosen und nackten Knöcheln rumlaufen...» - »...da friert es mich schon beim Anschauen«, beendete ich den Satz.
Wir schwiegen weiter, nun trank auch ich. »Da friert es mich schon beim Anschauen« – hatte ich das eben wirklich gesagt? Thomas und ich, wir sind keine alten, frustrierten Typen, auch wenn unser brütendes Schweigen am Tresen vielleicht den Anschein macht. Wir sind eigentlich noch nicht mal mittelalt. Aber eben haben wir exakt dieselbe Formulierung benutzt, mit der unsere Eltern und Großeltern vor nicht allzu langer Zeit die Löcher in unseren Jeans und die zerschlissenen Schuhe an unseren Füßen kommentiert haben. Was ist passiert? Was hat uns bloß so ruiniert?
Bestandsaufnahme: Seit einiger Zeit gilt es als schick, zwischen Oberkante Schuh und Unterkante Hose ein paar Zentimeter Luft zu lassen, Socken gibt es dazu entweder gar nicht oder nur diese kastrierten Füßlinge. Im Frühjahr und im Sommer letzten Jahres dachte ich mir noch nicht viel dabei, außer vielleicht, dass das neben der Vorliebe für Vollbärte die zweite Gemeinsamkeit ist, die Hipster und Salafisten teilen. Die tragen auch knöchelfrei, mit Verweis auf den Lifestyle zu Zeiten des Propheten.
Im Herbst las man erste Abgesänge auf den Trend, dann begann der Winter, der zunächst recht lange keiner werden wollte. Die Tage wurden kürzer, die Hosenbeine der jungen Menschen aber nicht länger. Dabei blieb es, selbst, als das Thermometer mit dem Gefrierpunkt zu flirten begann, was es jetzt schon deutlich länger als unbedingt nötig tut. Und die jungen Menschen, die vor der Bar rauchen, die an Bushaltestellen Bussen entgegenbibbern, die auf der Rolltreppe nervös von einem Fuß auf den anderen trippeln, zeigen immer noch ihre Fesseln. Bestenfalls schweinchenrosa, schlechtestenfalls blaugefrorenen.
Was ist das? Ein neuer Fetisch? Ein ironischer Seitenhieb auf die globale Erwärmung, »zwei Knöchel für den Klimawandel«? Eine Recherche im Netz bringt schöne Sätze zum Thema (»Der Knöchel ist das neue Dekolleté!« (Brigitte), »Auf freiem Fuss« (Schweizer Fernsehen SRF 3, sehr schön im Dialekt erklärt: »unguat, wenn ma vom Sockche das Randi gsieht«), aber wenig Erkenntnis, warum man heute gerne friert. Erklären kann das aber Lukas, ein Verwandter meiner Freundin, der noch richtig jung ist – seine wohlgeformten Fohlenfesseln können Sie übrigens oben auf dem Foto bewundern.
»Flanking oder Pinnroll heißt das«, schreibt er via whatsapp. »Die Hose hängt halt nicht über die Schuhe. Das kommt ja aus der Sneakers-Szene, so werden die Schuhe einfach besser hervorgehoben.« Die Jugend von heute – autsch, schon wieder so eine Formulierung! – friert sich also tapfer durch den Winter, um ihre Konsum-Errungenschaften zu präsentieren. Die schicken neuen Sneakers von Adidas oder die extrem seltenen von Nike. Oder, leider auch wieder häufiger, Mokassins zum Polohemd, Kragen hoch und durch.
Als ich das beim nächsten Mal am Tresen Freund Thomas erzählte, fanden wir das bemerkenswert. Denn wir damals, wir froren aus exakt dem gegenteiligen Motiv: Wenn der sibirische Winterwind durch die Löcher unserer Jeans und um unsere Knie pfiff, wenn der Schneematsch unsere Segelstoff-Turnschuhe aufweichte, dann war das gelebter Konsumverzicht. »Quasi Mittelfinger für die Industrie«, krakelte ich etwas übermütig nach dem dritten Bier, »nur weil es Winter wurde, mussten wir noch lange nichts neues kaufen! Wir haben einfach das ganze Jahr dasselbe getragen!« Dass die Jeans, in die wir kunstvoll unsere Löcher schnitzen, aber meist von Levi`s sein mussten und die Turnschuhe von Converse, das fügte dann Thomas noch hinzu. Dann schwiegen wir besser wieder.