Der irische Journalist hat mein volles Mitgefühl. Ich traf ihn auf der Geburtstagsparty eines norwegischen Journalisten und stellte ihm die Frage, die hier immer gestellt wird, und die ich darum ebenfalls in mein Smalltalk-Repertoire aufgenommen habe: »Und, wie lange bist du schon in Brüssel?« Der Ire sagte: »Seit 15 Jahren.« Und ich sagte: »Oh, wow.« Normalerweise ist die Antwort auf diese Frage irgendwas zwischen »drei Monate« und »drei Jahre«.
Zumindest in den Kreisen beziehungsweise der »Blase«, in der der Ire und ich uns in Brüssel meist bewegen: der sogenannten »EU-Bubble«, bevölkert von Menschen, die im näheren und weiteren Sinne mit den EU-Institutionen zusammenhängen, als Abgeordnete, Mitarbeiter, Journalisten. Viele von ihnen kommen für eine Legislaturperiode her, also für fünf Jahre, oder werden für einen begrenzten Zeitraum von ihrem heimischen Arbeitgeber entsandt.
Als Partnerin eines solchen Entsandten bin ich im vergangenen November hierher verpflanzt worden. Da wusste ich schon, dass ich nach spätestens fünf Jahren wieder gehen werde. Dazugelernt habe ich dann sehr schnell, dass man sich nicht allzu sehr an Menschen gewöhnen sollte, denen man hier begegnet. Weil die womöglich auch bald wieder gehen.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Etwa den Iren. Ich habe ihn auf der Party gefragt, ob er sich oft verabschieden muss. Er zuckte mit den Schultern, sagte aber gleichzeitig: »Ja. Ziemlich oft.« Ein pragmatischer Mann, dieser Ire. Muss er vielleicht auch sein. Er hat das traurige Schicksal, als Langfrist-Expat in einer Stadt der Abschiede zu leben. Da zu bleiben, wo ständig jemand geht. Experte zu sein im Abklatschen, Winken, Ziehenlassen.
Vielleicht macht es ihm auch wirklich nichts aus, oder er ist einfach gut darin, sich zu verabschieden. Ich bin es nicht und musste mich in Brüssel daran gewöhnen. Unmittelbar nach meinem Umzug – dem ja immerhin schon ein recht schwerer Abschied vorausgegangen war – fing das Tschüß-Sagen an und hat seitdem nicht mehr aufgehört. In meiner ersten Woche war ich auf einem abendlichen Abschieds-Empfang, eineinhalb Wochen später auf einer Abschieds-WG-Party. Kurz nachdem ich Mitglied der Whatsapp-Gruppe meines Sprachkurses geworden war, lud darin eine Schwedin zum Abschiedsumtrunk ein. Gerade erst hatten wir die Nachbarin aus dem dritten Stock ein erstes Mal besucht, schon teilte sie uns mit, dass sie bald umziehen werde.
Mein Partner sagt regelmäßig Sätze wie: »Treffe heute XY, die würdest du sicher auch mögen – aber naja, leider ist sie nur noch drei Wochen hier.« Kaum lerne ich jemanden kennen, bereite ich mich mental darauf vor, bei unserem nächsten Treffen »Klar komme ich zu deiner ,Farewell Party’« zu sagen. Als ich den Iren ein paar Wochen nach unserer ersten Begegnung das zweite Mal getroffen haben, waren wir wieder in der Wohnung des norwegischen Journalisten – als der seinen Abschied gefeiert hat.
Manchmal fühlt sich Brüssel an wie ein riesiger Transit-Bahnhof. Ein großes Drehkreuz, an dem alle kurz Station machen, ihr Gepäck abladen, ein bisschen rumwurschteln und dann weiterziehen. Bei einer Veranstaltung zum Thema Stadtplanung, die ich Ende März besuchte, wurde dieses Gefühl mit Zahlen bestätigt: Brüssel sei eine »fluid city«, hieß es da, eine Stadt im Fluss. 70 Prozent der Bevölkerung hat Wurzeln im Ausland und ein Viertel lebt zum jetzigen Zeitpunkt seit weniger als fünf Jahren hier. Und die hohe Fluktuation gilt nicht nur für die EU-Ausländer, die immerhin zwei Drittel des Ausländeranteils ausmachen, sondern auch für die restlichen Migranten. Auch Geflüchtete machen hier häufig nur Station, langfristig wollen sie nach Frankreich, England oder Deutschland.
»Es ist sehr leicht, in Brüssel Leute kennenzulernen«
Brüssel lockt gerne Menschen an, aber halten kann es sie anscheinend nicht. Vermutlich, weil fast niemand herzieht, weil es hier so schön ist. Brüssel ist eine dieser Städte, die man eher auf den zweiten Blick lieb gewinnt, womöglich sogar erst auf den dritten oder auch einfach gar nicht. Es gibt keinen schönen Fluss, dafür irre viel Verkehr und insgesamt einen eher düsteren Charme. Die meisten Menschen ziehen nicht freiwillig her, sondern, weil sie sich davon einen Vorteil versprechen oder hier etwas zu tun haben – haben aber dabei auch schon einen Plan im Kopf, wie es danach weitergehen soll. Nach Brüssel, nicht in Brüssel.
Die vielen Bahnhöfe, der Flughafen und die riesigen Ringstraßen machen dies Stadt sehr gut erreichbar, aber sie machen es einem auch leicht, sie zu verlassen. Was so toll daran ist, in Brüssel zu leben? Zumindest die EU-Ausländer, die es sich leisten können, sagen auf diese Frage häufig so etwas wie: »In zwei Stunden in London, in eineinhalb in Paris, in einer am Meer!«
Natürlich bedeutet hohe Fluktuation nicht nur viele Abschiede, sondern auch viele Begrüßungen und Neuanfänge. Für jeden, der geht, kommt jemand anders. Im dritten Stock wohnt jetzt ein netter Italiener und der Ausstand in meiner ersten Woche war gleichzeitig der Einstand für meinen Partner und seine Kollegin. Manche Menschen, die sich verabschieden, kommen sogar zurück: Die Bekannte, die im Winter die Abschieds-WG-Party gefeiert hat, ist seit Juli wieder hier. Die Schwedin aus dem Sprachkurs hat angekündigt, ab Februar wieder in Brüssel zu sein. So gesehen kann das Glas auch halbvoll sein – und wenn da sehr hochprozentige belgisches Bier drin ist, reicht das, um angenehm betrunken zu werden und die Dinge positiv zu sehen.
»Es ist sehr leicht, in Brüssel Leute kennenzulernen«, hat mir hier ganz am Anfang mal jemand gesagt, »weil ja immer so viele Leute neu herkommen und Anschluss suchen.« Das ist wahr. Alle sind offen, interessiert, zugewandt, umtriebig. Allerdings führe ich schon mein Leben lang vor allem Ganz-oder-gar-nicht-Freundschaften. Ich muss diese »Lass uns mal auf ein Bier treffen«- und »Ab und zu gemeinsam zum Lunch«-Bekanntschaften erstmal trainieren. Wie einen Muskel, den ich bisher kaum benutzt habe: kennenlernen, sich einlassen, loslassen. Kennenlernen, sich einlassen, loslassen. Und dabei immer das richtig Maß an Einlassen finden.
Eine gute Basis für dieses Training sind Gespräche über das Leben hier in Brüssel. Was daran gut ist, was daran nervt. Wie speziell es manchmal ist. Wie oft Leute gehen, wie oft neue Leute kommen. Das verbindet, aber es lässt einen auch nie vergessen, warum wir hier eigentlich zusammensitzt: Weil wir hierher verpflanzt wurden, hier etwas zu tun haben und in absehbarer Zeit wahrscheinlich wieder gehen werden. Weil wir uns gegenseitig brauchen, um in dieser Zeit nicht alleine zu sein. Auf dieser Basis knüpfen wir dann eine Verbindung, die fest genug ist, um ein Weilchen zu halten, aber von der wir schon wissen, dass sie wahrscheinlich irgendwann reißen wird. Gleichzeitig bemühe ich mich noch mehr als vorher, altgediente, schon lange haltbare Verbindungen zu guten Freunden zu pflegen. Ich habe seit meinem Umzug so viele Zugtickets gebucht, dass ich mir innerhalb kürzester Zeit einen Bahn-Comfort-Status zusammengefahren habe. Ich besitze mehr Gästebettdecken als jemals zuvor in meinem Leben. Und wärme mich außerdem jeden Tag an dem Gedanken, dass ich ja nicht alleine hierher gezogen bin. Sondern mit jemanden, von dem ich mich nie wieder verabschieden möchte.
Manchmal komme ich mir in meiner Beziehung zu Brüssel vor wie ein verzogener Millennial, der salbungsvoll irgendwas von »Ich kann mich nicht auf dich einlassen, weil ich Angst habe, verletzt zu werden« faselt. Aber was soll ich machen? Ich bin hier auf Zeit, und viele, mit denen ich zu tun habe, auch. Alle versuchen, aus dieser begrenzten Zeit eine gute Zeit zu machen, aber sie und die Menschen darin sind und bleiben eben flüchtig. Bei jeder Schraube, die ich in der Brüsseler Wohnung in die Wand gedübelt habe, habe ich daran gedacht, dass ich nicht bleiben werde, und mich gefragt, wie sehr sich Ankommen lohnt, wenn das Datum für den Abschied schon feststeht. Wie man es schafft, nicht einsam zu sein. Und ein gutes, erfüllendes Sozialleben zu haben, ohne sich erstmal mühsam ein komplett neues, festes soziales Netz zu spinnen, aus dem man dann hinterher nur schwer rauskommt. Und ich glaube, die Lösung für dieses Dilemma ist genauso paradox wie die Situation an sich: Man muss von ganzem Herzen eine halbherzige Liebe wollen.