Es gibt im Kroatischen das Sprichwort »Tko pita, ne skita«, was so viel bedeutet wie »Wer fragt, gerät nicht auf Abwege«. Der Satz dient als Tipp in allen möglichen Lebenslagen, ist aber eigentlich eine Reim gewordene Lebensphilosophie: Lieber einmal zugeben, dass man keine Ahnung hat, als den Rest des Lebens ahnungslos zu bleiben. Gut möglich, dass Manuel Neuer diesen Spruch schon mal gehört hat. Denn er hat kroatische Freunde, mag das Land und fährt seit Jahren zum Urlauben an die dalmatinische Adriaküste.
Ist ja auch schön da. Sonne, hinter einem die Ausläufer des Dinarischen Gebirges, vor einem kristallklares Meer. Später sitzt man in einer Bar, um einen herum lauter Einheimische, man isst und trinkt. Vielleicht holt jemand ein Akkordeon hervor oder eine Gitarre und dann singen alle zusammen über die Liebe, die Schönheit der Heimat, manchmal auch über die Liebe zur schönen Heimat. So oder so ähnlich wird es in Dubrovnik gewesen sein, wo Manuel Neuer am Wochenende Arm in Arm mit Kroaten das Lied »Lijepa li si« sang. Ein Video davon wurde zigfach im Internet geteilt, meistens mit der Frage, ob Neuer eigentlich wusste, wobei er da mitmachte – nämlich bei einem Song der kroatischen Band Thompson.
Deren Sänger Marko Perković gilt als Nationalist und Fan des faschistischen Ustaša-Regimes, das im Zweiten Weltkrieg in Kroatien herrschte. Und dann beschwört auch noch ausgerechnet dieses »Lijepa li si« – zu deutsch »Wie schön du bist« – eine Heimat, die das Nachbarland Bosnien-Herzegowina einverleibt, einen unabhängigen und souveränen Staat. Viele Kroaten verweigern sich wegen solcher Botschaft Thompsons Musik. Andere bejubeln die Band genau dafür, dass sie ein Großkroatien herbeifantasiert, das sich Nationalisten und Rechtsextremisten seit dem 19. Jahrhundert erträumen.
Im Video wirkt Manuel Neuer ziemlich textsicher. Ein deutscher Nationaltorhüter, der wissentlich bei sowas mitgrölt, wäre eine Katastrophe. Aber auch wenn Neuer nichts über Thompsons faschistische Fantasien wusste, hätte er sich entlarvt – als ein 34-jähriger Mann, der seit Jahren immer wieder in ein Land fährt, für dessen Kultur und Geschichte er sich anscheinend nicht interessiert. Wollte man Manuel Neuer etwas zugute halten, könnte man einwenden, dass er nicht der Einzige ist, der sich so verhält. Denn die Welt ist voll von Touristen, die blind oder gleichgültig sind für die Geschichte jener Länder, die sie besuchen.
In der Karibik lassen sich Urlauberinnen Braids flechten, ohne zu wissen, dass Braids unter den meist Schwarzen Frauen nicht einfach als chic gelten. Sie erinnern an die Versklavung von Schwarzen und vor allem daran, dass versklavte Schwarze Frauen ihre Haar flechten mussten, damit es auf der Überfahrt nach Amerika nicht verfilzte und dort geschoren wurde. Genauso versteht der Kambodscha-Besucher mit dem »I survived Cambodia«-T-Shirt nicht, dass dieser Spruch nicht in eine Reihe mit »I survived Oktoberfest« und »I survived Las Vegas« passt. In Kambodscha folterten und ermordeten die Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 nach Schätzungen mehr als zwei Millionen Menschen. Für Angehörige und noch lebende Opfer ist so ein Spruch keine Ohrfeige. Er ist ein Faustschlag in die Magengrube.
Das Argument »Die Leute können doch was sagen« liegt da nahe, schiebt die Verantwortung aber den Falschen zu. Und: Wie offen würde man selbst in so einem Moment Menschen kritisieren, die das eigene Land braucht, weil es ohne das Geld dieser Touristen in jene Armut zurückrutschen würde, aus der es sich gerade mal ein bisschen herausgearbeitet hat?
Es ist kein Zufall, dass man kulturelle und geschichtliche Fehlgriffe von Touristen oft in Gegenden der Welt beobachtet, die weniger wohlhabend sind, in denen vor noch nicht allzu langer Zeit Krieg und Gewalt herrschten. Der Tropenhelm, den man in Namibia für die Safari kauft, weil man es passend findet. Die Buddhastatue, die man aus Kambodscha mitbringt, damit sie ein bisschen Flair in die heimische Wellness-Oase bringt. Bindis und Saris, mit denen man durch Indien spaziert.
Dass viele Menschen die Bedeutung dieser und vieler anderer Symbole kaum oder gar nicht interessiert, ist ein Problem. Noch bitterer wird es, wenn man sie darauf hinweist und als Antwort kommt: »Ich hab’s halt nicht gewusst. Ist doch nicht so schlimm.« Zu glauben, es sei ein Zeichen von Wertschätzung für die andere Kultur, macht es leider auch nicht besser.
Wer nicht weiß, welche Bedeutung Symbole, Riten und Traditionen haben, verletzt die Gefühle von Menschen anderer Kulturen schneller als er ahnt – und das nur fürs eigene Wohlbefinden: um sich im Urlaub locker unter die Leute zu mischen und ein bisschen auf einheimisch zu machen. In der Wissenschaft nennt man ein solches Verhalten kulturelle Aneignung. Vereinfacht bedeutet das: Jemand übernimmt eine kulturelle Praxis, die nicht seine eigene ist, und reißt sie bewusst oder unbewusst aus ihrem Kontext.
Auch die Entscheidung, es nicht so genau wissen zu wollen, ist eine Entscheidung.
Auch ein Lied kann man sich, so gesehen, kulturell aneignen, wenn man es oft gehört hat und den Text beherrscht, wenn Menschen in dem Land, in dem man zu Gast ist, es immer wieder singen und wenn es dann auch noch so eingängig ist wie »Lijepa li si«. Man riskiert damit aber, genau jene Diskussion auszulösen, die jetzt rund um Manuel Neuer entstanden ist. Von seinem Management heißt es, er spreche gar kein Kroatisch, was wohl heißen soll: Andere haben ihn da in etwas hineingezogen, Manu kann nichts dafür. Kann er aber doch, denn auch die Entscheidung, es nicht so genau wissen zu wollen, ist eine Entscheidung, für die man Verantwortung trägt.
Wie fast immer im Leben kann man auch als Tourist Fragen stellen. In Neuers Fall wären diese Fragen ziemlich naheliegend gewesen: Worum geht es in diesem Lied, das in Kroatien so oft im Radio, bei Hochzeiten und bei jedem Auftritt der Nationalmannschaft gespielt wird? Und wer singt da eigentlich?
Die Antworten auf solche Fragen ziehen oft neue Fragen nach sich, weil die Antworten kompliziert sind. Dabei will man einfach nur eine gute Zeit in einer netten Umgebung haben und soll sich jetzt mit Nationalismus und Krieg beschäftigen. Oder andernorts mit Rassismus und Unterdrückung und Versklavung von Menschen. Wo das alles sowieso nichts mit einem selbst zu tun hat.
Geschichtsbücher existieren für jedes Land, man findet sie schneller als eine passende Unterkunft.
Nur hat es das leider doch, erst recht, wenn man weiß ist und/oder aus einem wohlhabenden Land in ein anderes Land reist, in dem die meisten Menschen weniger privilegiert sind als man selbst. Denn viele der Verstrickungen, mit denen solche Länder bis heute zu kämpfen haben, folgen aus der politischen und wirtschaftlichen Dominanz, die Staaten wie Deutschland, England, Frankreich, die USA, aber auch China und Russland seit Jahrzehnten, oft seit Jahrhunderten innehaben – eine Dominanz, mit der man Kriege beginnen konnte und Länder unterwerfen, die man dann später einfach sich selbst überließ. Die Jugoslawien-Kriege zum Beispiel hätte es ohne Österreich-Ungarn, ohne die beiden Weltkriege so nicht gegeben. Das kann man zum Beispiel in der sehr empfehlenswerten »Geschichte Jugoslawiens« von Marie-Janine Calic nachlesen, die man schneller durch hat als so manchen Reiseführer. Danach versteht man welche Rolle der Nationalismus und Faschismus in Kroatien spielen.
Geschichtsbücher wie das von Calic existieren für jedes Land, man findet sie schneller als eine passende Unterkunft, vorausgesetzt, man will mehr über den Urlaubsort wissen als: schönster Strand, bestes Restaurant, wichtigste Sehenswürdigkeiten. Vorausgesetzt also, man reduziert ein Reiseziel nicht auf die Kulisse, mit der es beworben wird. Das ist viel verlangt, klar, erst recht, wenn man diese Art Denken nicht gewohnt ist, weil man es nie gelernt hat.
Man kann das Interessieren und Informieren sein lassen. Man kann es aber auch anders machen, besser, indem man sich bei der nächsten Fahrt ins Ausland in die Kultur und Geschichte eines Landes einliest. Und indem man sich entschuldigt, wenn man aus Unwissenheit und Desinteresse, wahrscheinlich aus beidem, einen Fehler begangen hat.