»Liebt dich deine Stadt?«, fragt ein Sticker an einem Stromkasten auf der Leopoldstraße. Zum ersten Mal fällt mir dieser Sticker auf bei einem der letzten Spaziergänge, die ich mit dem Hund in München mache. Mein Freund und der Hund und ich, wir ziehen weg. Traurig und etwas schwermütig, aber vor allem wütend. Enttäuscht. Ernüchtert. Inzwischen auch optimistisch, das haben wir uns allerdings erarbeiten müssen, denn die Entscheidung fiel aus einem Zwang heraus: München hat so lange auf uns herumgekaut und angedroht, uns auszuspucken, dass wir mürbe der Stadt zuvorgekommen sind.
In der Vorweihnachtszeit kommt die Eigenbedarfskündigung für unser Zuhause. Die Tochter des Vermieters findet keine Wohnung hier, uns zu verdrängen ist die logische Konsequenz. Wir haben drei Monate Zeit, etwas Neues zu finden.
Am Anfang setzen wir uns ein »Mit richtig viel Zähneknirschen und wenn es die perfekte Wohnung ist«-Maximalbudget. 2000 Euro, dafür sollten doch zwei Menschen und ein Hund vier Wände finden, denken wir. In anderen Städten gibt es dafür Penthäuser. Aber Immobilienscout München ist ein Fantasieland, wo Schweiß und Tränen fließen und die Häuser aus Gold und Edelsteinen bestehen. Und 2000, das ist zwar eine schwindelerregende Zahl für monatliche Mietabbuchungen. Es ist aber auch laut einer Berechnung des Statistikportals Statista von 2018 die Zahl der Menschen, gegen die sich ein Wohnungssuchender in München bei der Bewerbung um eine Zweizimmerwohnung durchsetzen muss.
Nach zwei Wochen schiebe ich den Regler bei »Kaltmiete« immer wieder auf 2000 Euro, obwohl es mit allen Nebenkosten über unserem Budget liegt, ich tue es aus Angst, vielleicht die perfekte Wohnung zu verpassen. Es gibt sie, ziemlich sicher. Allerdings nicht für uns: 279 Treffer zeigt Immobilienscout in der Münchner Innenstadt an. Bis man das Häkchen setzt bei »Haustiere erlaubt«. Dann sind es sechs. Und diese sechs Vermieter können auswählen aus hunderten Wohnungssuchenden, von denen die meisten auf dem Papier eine solidere Beschreibung haben als: freiberuflicher Autor und PR-Managerin, die gerade im ersten Monat ihrer Probezeit vom neuen Job steckt.
Immer wieder suche ich und setze Häkchen und verschicke den Bewerbungstext, an dem wir ewig gefeilt haben und der mich gruselt, weil er fast nichts mit uns zu tun hat. Auf 15 Zeilen dienen wir den Immobilien-Halbgöttern zwei stahlwollegebürstete Menschen an, mit Sicherheit ausstrahlenden aber auch interessant klingenden Verklausulierungen unserer Jobsituation, mit einem gerade noch sympathischen Maß an Verzweiflung, mit lässig erwähnten Supermietereigenschaften wie »Wir lieben Musik aber spielen selbst keine Instrumente« und »Wir grüßen im Hausflur«.
Frau W. vom Immobilienbüro F. & Co. schickt einen Besichtigungstermin – und den Hinweis: »Bitte bedenken Sie, dass wir Sie nur in Erwägung ziehen können, wenn folgende Kriterien gegeben sind: keine Hunde, keine WGs, keine Probezeit, Miete maximal 40 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens«. Ich träume nachts davon, wie der letzte Punkt in einem Gesetz festgeschrieben wird – zugunsten der Mieter und Mieterinnen.
»Was sucht ihr auch eine Wohnung in der Innenstadt?«, fragt irgendwann eine höhnische Stimme in mir. Tut es nicht die Vorstadt auch, oder das Umland? Freundinnen und Freunde fragen so etwas nicht, weil sie wissen, dass wir das Treiben brauchen, die Abwechslung, die Möglichkeiten, die das Herz einer Stadt verspricht. »Was für ein Luxusgedanke!«, höhnt die Stimme in mir. »Du besitzt keine Immobilien, berätst niemanden, wie er sein Geld anlegen soll, schießt keine Sprintschlenkerschlenkerlupf-Tore in der Bundesliga – wer bist du, in deinem Wunschviertel leben zu wollen?«
Ja, wer bin ich, durch die Maschen dieses Wahnsinnsnetzes schlüpfen zu wollen, das der Mietmarkt in den vergangenen Jahren geknüpft hat? Der Aufkleber auf dem Stromkasten denkt verkehrt: Ich glaube nicht, dass meine Stadt mich liebt – ich bezweifle, dass München überhaupt weiß, dass ich hier bin. Dass ich seit acht Jahren immer an roten Ampeln warte, sogar nachts, oder dass ich die Häufchen vom Hund selbst aus dem tiefsten Gestrüpp heraustüte. Aber wichtiger wird in diesen Monaten die Frage: Liebe ich meine Stadt – und wie sehr?
Liebe ich Münchens feine Kleinkunstbühnen wirklich genug, um wegen ihnen nach Obermenzing zu gehen? Sind mir zwei vegane Restaurants ein Gilching bei München wert? Kann ich mir wegen des wunderbaren Englischen Gartens mit ihr anderthalb Zimmer Souterrain zu zweit mit Hund vorstellen?
In Puchheim ist ein Freund von uns zufrieden in einem Haus, für das er so viel Miete zahlt, wie wir für zwei Zimmer. Ein befreundetes Pärchen mit frischem Kind zog es im vorigen Jahr nach Trudering. »Hier gibt es eine echt gute Pizzeria«, sagen sie. Und: »Mit dem Bus ist man wirklich schnell am U-Bahnhof und dann sind es nur knapp 20 Minuten zum Marienplatz, mit nur einmal Umsteigen!«
Wir schreiben viele Listen, mit Pros und Contras, Gewichtungen und Zukunftsideen. Brauchen wir eine zweistellige Anzahl Bars und Clubs im Viertel, weil wir auch mal reingehen, oder geht’s eher um das Gefühl, wir könnten? Wie gut und wichtig kann ein Job sein, um einen um jeden Preis an eine Stadt zu binden? Kann sich eine Wohnung richtig gemütlich anfühlen, die mehr als die Hälfte von zwei guten Einkommen frisst? Wie viel hat man von ihr, wenn Arbeiten und Pendelei von jedem Tag elf Stunden verschlucken – und wie viel hat man als Paar dann noch voneinander? Besuchen einen selbst die besten Freunde und Freundinnen regelmäßig, wenn sie ab 23 Uhr immer wieder auf die Uhr gucken, damit sie ja nicht die letzte gute Bus-Bahn-Bahn-Verbindung verpassen? Und: Werden diese Menschen nicht vielleicht auch mal die Stadt verlassen, weil sie einen Job woanders finden – oder hier keine Wohnung?
Ende Februar ziehen wir die Reißleine. In der Suchleiste von Immobilienscout geben wir den Namen einer zwei Stunden entfernten Kleinstadt ein, in der Bekannte von uns wohnen, die wir mögen. Einen Job finde ich in der Großstadt in der Nähe zum Glück auch, das Pendeln zwischen den beiden Städten dauert so lange wie eine U-Bahnfahrt von Trudering zum Marienplatz. Unsere Freundinnen und Freunde sind traurig, weil wir gehen, und wütend auf München. Einige finden uns mutig, weil wir so einen radikalen Schritt machen. Ich bin vor allem froh, endlich wieder durchschlafen zu können.
Die erste Wohnung, die wir in der Kleinstadt besichtigen, bekommen wir. Ich verstehe das einfach so, dass uns diese neue Stadt schon ein bisschen liebt, bevor sie uns kennt.
Während ich Umzugskisten fülle mit Büchern und Platten und Brettspielen und mit allem was man eben so besitzt als junges, beruflich flexibles Akademikerpaar ohne Kinder, denke ich an all die Wohnungssuchenden in München, die nicht so einfach die Reißleine ziehen können. Menschen, die es sich nicht leisten können, den Regler auf 2000 Euro zu stellen, ob kalt oder warm; und schon gar nicht in einer anderen Stadt neu anfangen können. Die Älteren, die Großfamilien, die Pflegenden, die Alleinerziehenden, die Wenigerverdienenden, die familiär Gebundenen. Wir ziehen weg, weil wir es können. Etwas schwermütig, sehr optimistisch. Und beim Blick zurück vor allem: wütend.