Leserin H. aus Witten erinnert aus aktuellem Anlass an das Grimm’sche Märchen vom süßen Brei. Darin wird von einem Mädchen erzählt, das allein mit seiner Mutter lebt, »und sie hatten nichts mehr zu essen«. Da geht das Mädchen in den Wald und trifft eine alte Frau, die ihm ein Kochtöpfchen schenkt. Wenn das Mädchen »Töpfchen, koche« sagt, produziert das Töpfchen von selbst süßen Hirsebrei, sagt es aber »Töpfchen, steh«, so hört es auf zu kochen.
So hat es ein Ende mit dem Hunger, bis zu jenem Tag, an dem das Mädchen einmal spazieren geht – und die Mutter befiehlt dem Töpfchen, Brei zu kochen. Da kocht das Töpfchen, kocht und kocht, bloß hat die Mutter die Aufhör-Formel vergessen. Das Töpfchen kocht Brei, bis das Haus voll ist, noch ein zweites Haus und die ganze Straße, »als wollt’s die ganze Welt satt machen, und ist die größte Not«. Gott sei Dank kommt dann das Mädchen heim und spricht »Töpfchen, steh«. Das Töpfchen stoppt, aber wer jetzt in die vollgebreite Stadt hinein will, muss sich durchessen.
Ob einen das nicht an die Katastrophe im Golf von Mexiko erinnere, fragt Frau H. Und wie, Frau H., und wie! Bloß fragt man sich, wer die Mutter in diesem Fall ist? BP? Wir alle? Wer ist die alte Frau im Wald? Und vor allem: Wo steckt das verdammte kleine Mädchen?Zu denen, die jetzt den Ölbrei im Meer weglöffeln müssen, gehört Halieutichthys aculeatus, der Louisiana-Pfannkuchen- Fledermausfisch. Er ist nicht viel größer als ein Zwei-Euro-Stück, sieht aber aus wie ein Omelett mit Füßen, das sich über den Meeresboden schiebt. Tatsächlich: Der Louisiana- Pfannkuchen-Fledermausfisch hat Flossen, die an Füße erinnern und die er wie Füße benutzt, er hat also nichts flunderhaft Schwebendes, sondern hüpft und krabbelt sachte über Sand und Stein. Gerade erst ist dieses zauberhafte Wesen entdeckt worden, von einem Mann mit dem romanhaft-wuchtigen Namen Dr. Prosanta Chakrabarty, der das Amt eines Fischbiologen an der Louisiana State University versieht.
Dr. Prosanta Chakrabarty zog bei einer Forschungsreise etwa hunderttausend Fische aus dem Wasser – nur drei von ihnen waren Pfannkuchen-Fledermausfische! So erfährt die Welt jetzt zum ersten Mal von der Existenz dieses überaus seltenen Tieres und von der Fähigkeit der Natur, im Wasser laufende Omeletts mit schmalen Mündern und großen dunklen Augen zu schaffen – und hört im gleichen Moment die Nachricht vom Ende des Wunders, ja, sie hört sie nicht einmal wirklich, weil ihre ganze Aufmerksamkeit protestierenden Fischern, ölverschmierten Pelikanen und von schwarzem Schmierschlick bedeckten Delfinen gilt, aber nicht diesem münzgroßen krabbelnden Lappen am Meeresboden, der einsam unter Rohölklumpen verreckt.
Ein Pfannkuchen-Fledermausfisch. Wer denkt nicht an das Märchen vom dicken, fetten Pfannekuchen?! Der aus der Pfanne springt und allen weg- läuft, die ihn essen wollen, bloß das Schwein erwischt am Schluss eine Hälfte; der halbe Pfannekuchen aber rettet sich. Woraus wir lernen, dass das Leben erstens nie wie im Märchen verläuft und zweitens die dicken, fetten Pfannekuchen immer weiter kommen als die kleinen, zarten...
Übrigens gibt es nicht nur Fische mit Füßen, sondern auch solche mit Händen, zum Beispiel Brachionichthys hirsutus, den Gefleckten Handfisch, dessen Flossen Handform haben und der auf diesen Händen im sandigen Untergrund vor der Küste Tasmaniens herumgeht und seinerseits irgendwie versucht, dem Aussterben zu entrinnen, weil seine Eier vom Seestern Asterias amurensis gefressen werden, einem hochleistungsstaubsaugerartig gefräßigen Vieh, das vor Tasmanien eigentlich nichts zu suchen hat, hierher aber im Ballastwasser von Schiffen gelangt ist – und es sich nun gutgehen lässt.
Was gibt es dort unten im Meer noch, von dem wir nie erfahren werden, weil niemand »Töpfchen, steh« sagt, ja, niemand weiß, dass man »Töpfchen, steh« sagen müsste?
Illustration: Dirk Schmidt