Das Beste aus meinem Leben

Notizen aus Venedig (II): Es gibt einiges, was man an dieser Stadt abstoßend finden kann. Die widerwärtige Habgier ihrer Wassertaxifahrer. Die ekligen Tauben auf dem Markusplatz, die den Besucher anfliegen, als wollten sie ihm den Schnabel ins Hirn rammen, und höhnisch kichernd erst Zentimeter vor seinem Gesicht abdrehen. Die unfassbare Dreistigkeit gewisser Restaurantbesitzer, die zum Preis dreiwöchiger Karibik-Kreuzfahrten halb aufgetaute Mikrowellengerichte auftischen.Aber dann fragst du irgendwo im Gewirr der Gassen einen Venezianer nach dem Weg und hörst, wie er dir in aller Ausführlich- und Liebenswürdigkeit diesen Weg beschreibt, ja, er geht noch mit dir zusammen zur nächsten Ecke und würde dich wohl am liebsten jetzt und sofort persönlich ans Ziel bringen, wäre es ihm zeitlich nur irgendwie möglich – er muss aber noch anderen einen Weg weisen.Und du siehst einen Russen, der immer wieder auf einen ratlosen Ladenbesitzer einschreit: »Marco Polo?! Marco Polo?!« Bis dieser endlich begreift, den brüllenden Slawen am Arm nimmt und ihm lächelnd und in aller Freundlichkeit den Weg nach San Marco weist.Aber dann gehst du wieder vorbei an den Andenkenständen auf der Riva degli Schiavoni und siehst den niederträchtigsten Kitsch, den der Globus kennt. Du siehst die leeren, gleichgültigen Touristengesichter, deren Besitzer an den herrlichsten Sehenswürdigkeiten dieser Stadt vorbeitrotten, als wären es Schlammlöcher, und fragst dich, warum um alles in der Welt diese Menschen überhaupt verreisen – und dann auch noch in diese Stadt. Du denkst an das gefürchtete Ospedale Civile... Wer einmal nachts in den Gängen dieses grässlichen Krankenhauses stand, auf die Hilfe eines Arztes angewiesen, der wird hinfort alles erdenklich Vorsorgliche für seine Gesundheit zu tun bereit sein, nur um bittebitte nie wieder diesen Ort betreten zu müssen und nie wieder von einem Doktor aus dem Zimmer gebrüllt zu werden, das er nach einstündigem Warten auf einem menschenleeren Flur zu betreten gewagt hatte, ein Doktor, der sich anscheinend von Patienten nur gestört fühlt.Aber dann sitzt du eines Nachmittags auf dem Campo Santa Maria Formosa und trinkst ein Bier im Café. An den Tisch neben dir setzen sich zwei Italiener, einer von ihnen sehr beleibt, mit weißen Haaren und einem ebenso weißen Bart in seinem Qualtinger-Gesicht, ein Mann, der ebenso gut Personalratsvorsitzender der venezianischen Stadtverwaltung sein könnte wie ein auf zwei bestimmte Rottöne in Carpaccio-Gemälden spezialisierter Kunsthistoriker; vielleicht ist er sogar beides.Er mustert dich neugierig, dann bestellt er einen Kaffee und unterhält sich mit seinem Begleiter. Es nähert sich ein junger, schwer körperbehinderter Mann, der schleppend geht, aber dabei mit spastisch nach innen gebogenen Händen einen Rollstuhl schiebt, in dem ein noch viel schwerer behinderter Mensch sitzt, vor seinen Bauch eine kleine Aktentasche geschnallt, den Kopf auf die linke Schulter gebettet, der Blick hinter zentimeterdicken Brillengläsern in irgendeine Ferne gerichtet, während aus dem Mundwinkel Speichel rinnt.Dieses Paar schiebt sich auf unseren Tischnachbarn zu. Dort angekommen, kräht der Rollstuhl-Chauffeur: »Ciao, Carlo, wie geht es dir? Das hier ist Roberto, mein Freund.«Und Carlo, unser Nachbar, schaut seine beiden Besucher freundlich lächelnd an und sagt den besten, den treffendsten, den einzig jetzt passenden Satz: »Es lebe die Freundschaft!«Da nimmst du einen Schluck Bier und denkst: »Viva Venezia! Viva l’Italia!«