Das Beste aus meinem Leben

Neulich habe ich hier was über Onkel geschrieben, diese faszinierende, ganz und gar versunkene Onkelwelt, in der wir früher lebten. Wo man hinblickte, hatte man einen Onkel, und heute bin ich selber Onkel, aber keiner nennt mich so, weil man das Wort »Onkel« nicht mehr benutzt, höchstens ironisch.Und die Tanten? Was ist mit den Tanten?, wird nun gefragt. Sind die Tanten kein Wort wert? Und ob, sage ich, und ob Denn als kleiner Junge war ich gleichsam umstellt von Tanten; im Prinzip war jede Frau, die nicht meine Mutter war, meine Tante. Die Frau, die unser Haus putzen half, war eine Tante, jene, die meine Mutter frisierte, war auch eine Tante und selbst die Besitzerin des Zeitungsladens im Dorf, bei der Großmutter ihren Lottozettel abgab: Tante. Alles Tanten, die ich mit dem Nachnamen anredete: Tante Schulze, Tante Wagner, Tante Wedemeyer.Jetzt lachen schon die Ersten, was? Früher benutzte man so ein Wort ganz selbstverständlich und ernsthaft, und heute wird gelacht. Mensch!Ich lebte in einem Universum von Tanten. Kaum war die eine aus dem Haus, stand schon die andere vor der Tür, Tante Elli zum Beispiel … (Sehen Sie, das kommt ja noch hinzu, diese Tanten hießen Elli oder Erna, so heißt heute auch kaum noch jemand.) … Tante Elli also kam jeden Mittwoch, sie war eine Schwester meines Großvaters und erledigte für uns Näharbeiten, besserte meine zerrissenen Hosen aus und erschien nie ohne ein großes Paket mit Kuchen, allein schon dafür liebte ich sie. Manchmal hatte sie auch ihre Tochter dabei, die war auch meine Tante und hieß Lisbeth, aber sie sagte den ganzen Nachmittag kein Wort außer manchmal »Öjahaaaha« zu seufzen. Sie arbeitete als Sekretärin in der Klavierfabrik, heiratete nie, und später, als ihre Eltern schon lange tot waren, wohnte sie immer noch im Elternhaus in ihrem Kinderzimmer, ganz allein.Heute redet ja alle Welt von der Patchwork-Familie, als sei das etwas ganz und gar Neues, aber für mich ist es das nicht. Einer meiner Großväter war dreimal verheiratet, meine Großmutter war seine zweite Frau, meine Mutter seine zweite Tochter, aber es ging den beiden anscheinend nicht gut im Haus des Großvaters, denn eines Tages fuhr der Vater meiner Großmutter, also mein Urgroßvater, mit einem Pferdefuhrwerk vor, lud Großmutter und Mutter (die damals nicht meine Mutter war, sondern ein kleines Mädchen) ein und brachte sie, nun ja, zu einer Tante, der Tante Karoline, wo sie fortan lebten. Meine Mutter traf ihren Vater erst wieder, als sie schon erwachsen, verheiratet und Mutter war. Seine dritte Frau hatte das Treffen vermittelt, und fortan waren wir dort häufiger zu Besuch, und ich sagte »Tante Ursula« zur dritten Frau meines Großvaters.Ich weiß nicht, ob Sie mir folgen konnten. Falls nicht: Es ist nicht so wichtig. Ich wollte nur sagen, dass das Leben auch früher sehr kompliziert war und dass für einen kleinen Buben die Bezeichnung »Tante« eine Art Reduktion von Komplexität war, um es mal mit Onkel Luhmann auszudrücken. Es machte vieles einfacher, wenn man zu allen Frauen »Tante« sagte.Ich existierte, als ich klein war, als Sternchen in einem Universum von Tanten. Ich hatte alte Tanten mit rauen Stimmen, die bei Familienfeiern nach dem Essen Zigarren rauchten. Ich hatte junge, begehrenswerte Tanten, denen ich vergnügt die Heirat versprach, bis ich eines Tages feststellen musste, dass sie sich für andere, größere Männer entschieden hatten, Gott sei Dank waren die nett und nahmen mich zum Fußball mit. Ich hatte eine Tante, die ich fast nie sah, obwohl ich jeden Sommer in ihrem Haus lebte: Mein Großvater führte in den Ferien ihr Hutgeschäft, sie fuhr derweil nach Amerika zur Tochter (auch eine Tante), und ich lebte mit den Großeltern im Tantenhaus, ging schwimmen und wandern, denn das Haus war im Harz.Und heute? Eine tantenarme Welt. »Nicht traurig sein«, hätte Tante Elli gesagt. »Iss mal lieber ein Stück Kuchen.«

Illustration: Dirk Schmidt