Das Beste aus meinem Leben

Kürzlich las ich ein Interview mit einem berühmten Hirnforscher, Manfred Spitzer heißt er. Er sagte unter anderem, es gefalle ihm nicht, dass in unseren Schulen die Dinge früh nur abstrakt behandelt und Regeln immer gleich als Regeln gepaukt würden. Für ihn, den Hirnforscher, bedeute Lernen, sich die Regeln selbst anhand von Beispielen zu erarbeiten. Wer sich immer wieder mit Konkretem befasse, dessen Hirn lerne die dahinter stehenden Regeln automatisch, unbewusst, »in der Grammatik unserer Muttersprache« etwa.»Ein Beispiel?«, fragten die Interviewer. Der Hirnforscher sagte: »Meine Lieblingsregel der deutschen Grammatik lautet: Verben auf ›ieren‹ bilden das Partizip ohne ›ge-‹: interessieren – interessiert; spazieren – spaziert. Das machen Sie richtig, ohne nachzudenken.«Da fiel mir Sophie ein, deren Hirn sich gerade ausgiebig mit Partizipbildung beschäftigt und dabei zu interessanten Ergebnissen kommt.Sophie steht zum Beispiel oben an der Treppe, während ich unten warte, und sagt: »Warte, bis ich da runtergegeht habe.« Wenn sie unten angekommen ist, sagt sie: »Ich bin da runtergegehn.« Wenn sie nicht runtergegangen ist, sagt sie: »Ich habe oben gebleiben.«Wenn Sophie gegessen hat, sagt sie, sie habe geesst. Oder geisst. Oder geessen. Wenn eine Mücke sie gestochen hat, sagt sie, die Mücke habe sie gestichen. Wenn sie etwas geholt hat, sagte sie, sie habe es geholen.Am schönsten ist das Partizip, das sie zu heiraten bildet. Heigeratet.Ich muss an meinen Grammatikunterricht in der Schule denken, der mich so langgeweilt hat, dass ich noch heute beim Gedanken daran sterben könnte. Wenn ich Grammatik unterrichten müsste, würde ich die Schüler bitten, möglichst viele schöne möglichst falsche Partizipien zu bilden. Das ist mein Ansatz: Schönheit geht vor Richtigkeit, Sprachspaß vor correctness. Ich bin aber sehr froh, dass ich nicht Grammatik unterrichten muss.Der Hirnforscher sagte, er könne den Interviewern sofort beweisen, dass auch deren Unterbewusstsein die Regel mit den Partizipien auf »-ieren« beherrsche. Er forderte sie auf, das Partizip von »quangen« zu bilden.»Gequangt«, sagten die Interviewer.»Und von ›patieren‹?«, fragte der Hirnforscher.»Patiert.«»Sehen Sie!«, sagte der Hirnforscher, so gehe das. »Sie können Wörter beugen, die es nicht mal gibt.« Das Gehirn habe eben nicht alle je gehörten Wörter gespeichert und abrufbar gehalten, sondern selbst eine Regel gebildet, die es bei Bedarf richtig anwende.Quangen, dachte ich. Patieren. Sehr schön. Ob es diese Wörter nicht gibt, ist noch die Frage. Sie stehen ja da, auf dem Papier. Und etwas, was da steht, das gibt es auch. Die Wörter haben vielleicht keine Bedeutung, aber Wörter sind sie trotzdem. Möglich, dass sie eines Tages eine Bedeutung bekommen. Jeden Tag entstehen ja neue Bedeutungen, dafür braucht man Wörter. Quangen und patieren stehen bereit.Und es gibt Wörter, deren Bedeutung man nie kennenlernt, obschon sie zweifelsohne eine haben müssen. In vielen Jahren der Fernsehserie Derrick habe ich nie verstanden, was ein Wagenharry ist. Immer wieder ordnete Derrick an, »schon mal den Wagenharry« zu holen. Aber nie sah ich ihn. Dabei muss es ihn doch geben. Oder jedenfalls gegebt haben.Die Sophie hat neulich das Wort halixen erwähnt. Oder halicksen? Oder Halicksen? Das hat sie nicht gesagt. Sie hat auch nicht gesagt, was das Wort bedeutet, ob es ein Substantiv oder ein Verb ist, dessen Partizip hagelixt oder gehalickst lauten könnte. Sie hat gekichert und gesagt, das sei ein Geheimnis. Da müsse noch viel sprachgeforscht werden, um es herauszubekommen. (Na gut, das hat sie nicht gesagt, das war ich jetzt.)Über Plurale müssten wir auch mal reden. Ein Mann, zwei Manne, sagt Sophie. Und dann aber, seltsam: ein Tengelmann, zwei Tengelsmann.

Illustration: Dirk Schmidt