Das Beste aus meinem Leben

Heute wollen wir versuchen, das Wesen der Schublade zu verstehen. Denn obwohl fast jeder von uns über viele Schubladen verfügt, sind sich, meiner Meinung nach, die meisten Menschen über die wahre Bedeutung der Schublade im Unklaren. Ich möchte deshalb DREI THESEN ÜBER SCHUBLADEN formulieren.Erste These: Es ist unwahr, dass wir in Schubladen Dinge aufbewahren, die wir später noch einmal benutzen wollen. Richtig ist vielmehr, dass wir Gegenstände in der vagen Hoffnung einer Schublade anvertrauen, sie mögen darin für immer verschwinden.Ein Bespiel: In unserem Wohnzimmer befindet sich ein Sekretär. Der Sekretär hat drei große Schubladen. In eine von ihnen warf ich stets, wenn ich von einer Reise zurückkehrte, die Stadtpläne und Landkarten, die ich auf der Reise erworben hatte, immer mit dem Hintergedanken, ich hätte damit für eine weitere Reise zum selben Ziel schon Pläne zur Verfügung. Aber wenn ich diese weitere Reise dann antrat, vergaß ich stets, die Pläne aus der Schublade zu nehmen. Ich musste mir neue kaufen, die ich später wieder in die Schublade legte.So füllte sich die Lade, bis sie eines Tages nicht mehr zu öffnen war. Ein Autoatlas hatte sich verklemmt, ich ruckte, rackelte, riss – nichts geschah. Mehrere Jahre blieb die Schublade geschlossen, bis es eines Tages einem zufällig anwesenden Schreiner gelang, sie zu öffnen. Ich nahm die Lade aus dem Sekretär, ging damit zum Altpapiercontainer, kippte den Inhalt komplett hinein und sah der Wahrheit ins Antlitz: Wenn ich verreise, möchte ich nicht mit alten, zerlesenen Plänen reisen, sondern mit aktuellen, unberührten. Nur um mein Gewissen zu beruhigen (Mutti spricht aus dem Jenseits: Wirf nicht diese schönen Karten weg, Junge, die kann man noch mal verwenden!) hatte ich die Karten in die Lade gelegt.Zweite These: Zwischen Außenwelt und Schublade existiert ein Materie-Sog, der unaufhaltsam ist und dem wir uns nicht entgegenstellen sollten.Begründung: Es war nämlich gar nicht der Schreiner, der die Sekretär-Schublade letztlich geöffnet hatte. Er hatte sie nur einen Spalt weit aufgemacht, dann hatte er gehen müssen. Ich hatte durch den Spalt meinen rechten Arm eingeführt, um den verkeilten Atlas zurechtzurücken. Was mir auch gelang. Aber dann bekam ich den Arm nicht mehr aus der Schublade. Ich steckte so fest, dass sich in mir die Angst breit machte, ich würde den Rest meines Lebens hier verbringen müssen. Oder jedenfalls jene Jahre, bis mein Arm so weit geschrumpft wäre, dass ich ihn hätte herausziehen können. Oder doch die Zeit, bis die Schublade zugebissen hätte wie ein hungriges Krokodil. Und ich schwöre: Ich spürte, wie ich da vor dem Sekretär hockte, den Arm im dunklen Nichts der Lade – ich spürte da eine Art Wind, der mich in die Schublade hineinzog. Das war der Sog der Materie, die von außen in die Schublade drängte.Denn haben Sie schon einmal eine leere Schublade gesehen? Nein. Die gibt es nicht. Es gibt einen steten Materie-Strom in die Schubladen hinein. Und kaum hatte ich mich mit äußerster Kraft der Lade entrissen und all die Landkarten entsorgt, war die Schublade schon wieder voll, mit irgendetwas, ich weiß nicht. Mit Materie eben.Dritte These: Schubladen sind überhaupt nicht dazu da, DINGE aufzubewahren. Was sie in Wahrheit in sich aufnehmen, ist UNORDNUNG.Zur Begründung Folgendes: Ich gelte als ordentlicher Mensch. Das bin ich aber nicht. Bei mir sieht es nur ordentlich aus. Bücher stehen im Regal, Papiere liegen auf Stapeln. Aber öffnen Sie mal eine Schublade! (Falls sie sich öffnen lässt.) Sie blicken ins Chaos. Radiergummis, Visitenkarten, Gebrauchsanweisungen, Klebestifte, kaputte Handys, Ladekabel, Taschenrechner, Bonbons, Elternbriefe, Eierpiekser, Glühbirnen … Alles, was draußen die Ordnung stören würde – hinein! Keinen dieser Gegenstände würde man, wenn man ihn eilig suchte, hier eilig finden. Darauf kommt es nicht an.Es ist einzig wichtig, dass das unvermeidliche, nicht abzuschaffende, nicht aufräumbare Chaos irgendwo seinen Platz hat.

Illustration: Dirk Schmidt