Folgendes verstehe ich gut: Seit Jahren regt man sich, zu Recht, über die unmoralischen und zum Teil rechtswidrigen Aktivitäten der Auto-Industrie auf, erstens. Zweitens: Wochenlang wird in allen Medien über die Forderung des Vorsitzenden der Jungsozialisten debattiert, BMW zu vergesellschaften; mit Freude wird von Diskutanten registriert, dass es endlich wieder um große und grundsätzliche Fragen gehe, und das ist schön und gut, nicht wahr? Drittens finden die Fridays for Future-Aktivistinnen allergrößtes Echo in der Welt, und das ist außerordentlich begrüßenswert, denn hier geht es um Grundlagen unseres Lebens, die systematisch zerstört werden.
Hier kommt nun ein Punkt, den ich nicht gut verstehe – und zwar überhaupt nicht gut. Es gäbe ein politisches Thema, in dem es sowohl um unmoralische und zum Teil rechtswidrige Aktivitäten von Konzernen geht als auch um große und grundsätzliche Fragen als auch um die Zerstörung der Grundlagen unseres Lebens, ein Thema also, das an Größe kaum zu überbieten ist. WARUM aber spielt es in öffentlichen Diskussionen keine angemessene Rolle?
Es geht um die sogenannten sozialen Medien, Facebook, Youtube, Twitter und so weiter, vor allem Facebook.
Dort, auf Facebook, wird seit einer Weile ein Video der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, gezeigt. In diesem Filmchen, das sie bei einer öffentlichen Veranstaltung zeigt, wirkt Pelosi betrunken. Das Material ist gefälscht, man hat die Aufnahme langsamer laufen lassen. Pelosi trinke nie Alkohol, sagt ihre Tochter. Das ändert nichts, Millionen sahen die Aufzeichnung und garnierten sie mit hämischen Kommentaren. Rudy Giuliani, einer der engsten Berater DES GROSSEN LÜGNERS, verbreitete sie. Wen wundert das noch? Wir wissen schon lange, dass sich diese Leute für nichts mehr schämen.
Wichtig ist, dass Facebook sich weigert, das Video zu löschen. Es schränkte irgendwann sein Reichweite ein, versah es mit einer Kennzeichnung, wonach es möglicherweise manipuliert sei – anders als Youtube, wo alle Versionen entfernt wurden. Gesehen wird es trotzdem weiter massenweise.
Ebenfalls auf Facebook konnte man, so berichtete detailliert die FAZ, noch zwei Tage, nachdem der Kasseler Regierungspräsident Lübcke tot in seinem Garten gefunden worden war, widerwärtigste Texte lesen. (»Mich freut es« oder »Selbst schuld« waren noch harmlos.) Es wurde zum Mord an anderen Politikern aufgefordert, in Orgien von Hass und Gewaltphantasien. Der Geschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn, hatte schon vorher kritisiert, dass die sogenannten sozialen Netzwerke auch nach neuen gesetzlichen Regelungen wenig Bereitschaft zur Kooperation mit den Behörden zeigten.
Pelosi, Lübcke, das sind Beispiele. Von Facebook hört man nach alledem immer nur routinierte Stellungnahmen, so geht das schon sehr lange. Nie ist die Rede davon, dass man sich schäme, niemand spricht von Entsetzen, nirgends ein angemessenes Wort. Keiner würde diesen Dreck kennen, würde Facebook da nicht mitmachen. Erst diese Firma verschafft den Hetzern ihr Publikum, sie ermöglicht es ihnen, sich miteinander zu verbinden. Sie arbeitet denen in die Hände, die unsere Demokratien zerstören wollen, und ich frage mich, wann wir uns endlich wirklich dagegen zu wehren beginnen.
Facebook ist kein soziales Medium. Soziale Medien würden uns allen gehören. Es ist vollkommen inakzeptabel, dass wir Information und Debatte in einer Demokratie so weitgehend einem undurchsichtigen und uneinsichtigen Konzern überlassen. Facebook müsste vergesellschaftet werden, in welcher Form auch immer, lange, sehr lange vor BMW. Dies ist die Frage des Tages: Wann wird das endlich zum großen Thema?