Auf der Internetseite theatlantic.com stieß ich auf einen Artikel über den Zufall. Der Autor dachte darüber nach, wie es möglich gewesen sei, dass er einst als Schüler mit seinen Freunden vor einer Achterbahn in Cedar Point/Ohio 134 Dollar fand, die jemand verloren hatte, eine Summe, die ihnen, den Findern, gleich darauf von einer Gruppe kräftemäßig überlegener Halbstarker einfach weggenommen wurde – und dass er (ein Jahr später!) in einem Sommerlager in Michigan einen Jungen traf, der ihm beiläufig erzählte, er habe vor einem Jahr vor einer Achterbahn in Cedar Point einen Haufen Geld verloren.
Äh, wie viel? Na, so 134 Dollar.
Doller Zufall, oder?
Der Autor hat sich dann mit allerhand Zufallsforschern unterhalten, von denen einer zu bedenken gab: Das eigentlich Erstaunliche sei nicht einmal, dass Verlierer und Finder nach so langer Zeit plötzlich in einem Raum waren. Sondern dass sie bemerkten, wie sie durch ein Ereignis miteinander verbunden waren! Sie hätten sich ja auch nicht unterhalten können oder, wenn doch, dann bloß über das Wetter oder über Mädchen.
Dies führt zu zwei Erkenntnissen. Erstens: Sehr wahrscheinlich passieren um uns herum immerzu die unwahrscheinlichsten Dinge, wir bekommen das aber gar nicht mit. Zweitens: Diejenigen, die es dann doch mitbekommen, sind nicht Leute, denen mehr Zufälle passieren als anderen. Sie registrieren es nur eher, reden vielleicht mehr mit Leuten. Bernard Beitman, ein Psychiater an der Universität von Virginia, hat sogar untersucht, welche Menschen-Typen offener für Zufallsentdeckungen sind: Leute, die sehr religiös oder spirituell sind, auch solche, die alles Weltgeschehen immer nur auf sich beziehen, und dann noch jene, die besonders traurig, wütend oder ängstlich sind – alle sehr zufallsaffin.
Leuten, die sich mit so etwas gerne beschäftigen, ist das sogenannte Geburtstagsproblem ein Begriff, in dem es um die Antwort auf die Frage geht: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass, wenn 23 Personen sich in einem Raum aufhalten, mindestens zwei von ihnen am gleichen Tag im Jahr Geburtstag haben? Man würde denken: ein Prozent, vielleicht fünf, es ist aber so: fifty-fifty. Schon bei fünfzig Menschen im gleichen Saal ist die Wahrscheinlichkeit bei mehr als 97 Prozent.
Interessant ist nun, wie man mit dieser Tatsache umgeht. Man kann sagen, so ist die Welt, der Zufall ist die Regel, die Mathematik erklärt alles. Der Mensch kommt aber aus einer anderen Erfahrungswelt, nämlich der des Kindes. »Kleine Kinder sind berechtigterweise Verschwörungstheoretiker, denn ihre Welt wird gelenkt von einer undurchschaubaren und allmächtigen Organisation, die über geheime Kommunikationswege und eine mysteriöse Macht verfügt – eine Welt der Erwachsenen«, schreiben die Wissenschaftler Thomas Griffiths und Josh Tenenbaum in einer Studie über Zufälle. Mancher verlässt diese Gefühlswelt nie, das Weltgeschehen scheint ihm auch als Erwachsenem gesteuert von unsichtbaren dunklen Kräften. Man muss nicht zurückgehen zur Paranoia vom »Weltjudentum«, sondern kann sich auch heutige Beispiele suchen: das Reden von »denen da oben«, von »der Politik«, »den Medien« und »der Presse« zum Beispiel bei Leuten, die nicht lassen können von der kindlichen Vorstellung, dass unbeeinflussbare Kräfte an den Schalthebeln des Daseins wirken.
Interessant ist das schon, wenn man politische Bewegungen wie die Le Pens oder der »Pegida« (und warum nicht auch vieler Leute bei der AfD?) unter diesem Gesichtspunkt interpretiert: als Flucht vor der Kompliziertheit der Welt – wohin? In die Sicherheit kindlichen und damit vertrauten Empfindens und zugleich, man ist ja nun mal kein Kind mehr, in eine Rebellion dagegen, in den pubertären Aufstand. Wie nennen sie die Frau, die sie loswerden wollen, in Dresden manchmal? »Mutti!«
So sind wir beim Nachdenken über den Zufall schon wieder beim politischen Geschehen gelandet. Das kann kein Zufall sein.
Illustration: Dirk Schmidt