Wann ist ein Schuss ein Schuss?

Zum Start der Fußballweltmeisterschaft stellt Axel Hacke fest, dass das Treten eines Balles eine hochkomplexe und philosophische Angelegenheit ist.

Als vor einer kleinen Weile dem FC Bayern gegen Real Madrid zwar ein großes Spiel gelang, aber dann doch nur ein 2:2, das zum Ausscheiden aus der Champions League führte, begann alsbald großes Jammern über ungenutzte Chancen, nicht verwandelte Flanken und gemachte Fehler. All diese Stimmen bündelten sich schließlich in einem Satz von Mats Hummels. Der Abwehrspieler sprach darüber, wie er in der Nachspielzeit aufs Tor hätte schießen können, dann aber doch zu Lewandowski passte, der wiederum, so Hummels, »zu 99 Prozent das 3:2 gemacht hätte, wäre der Pass nicht abgefälscht worden«.

Worauf Hummels nun, bitter bedauernd, diesen »ungeschossenen Schuss« beklagte.

Natürlich erinnert die Formulierung zum Beispiel an die Wehrpflicht in Deutschland, die zwar grundsätzlich besteht, aber sozusagen nicht mehr praktiziert wird, denn es wird einfach niemand mehr zum Wehrdienst eingezogen. Überhaupt ist ja die Bundeswehr im Moment die Armee der ungeschossenen Schüsse schlechthin; den meisten Kampfjets fehlen Ersatzteile, von den U-Booten funktioniert kein einziges, wie es soll, auch mangelt es an warmen Unterhosen. Im Grunde könnte man Deutschland ohne einen einzigen Schuss erobern.

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Doch müssen wir das Thema vor der Fußball-Weltmeisterschaft noch etwas grundsätzlicher angehen.

Denn die Frage wäre: Ist ein ungeschossener Schuss überhaupt ein Schuss? Wird der Schuss nicht erst im Moment des Schusses zum Schuss – und ist vorher einfach: nichts? Dem Begriff des Schusses ist doch das Geschossensein sozusagen immanent, wie auch ein ungedachter Gedanke nicht denkbar ist, weil es ohne Denken nun einmal keinen Gedanken geben kann.

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Andererseits ist der Schuss doch als Vorstellung immer wieder vorhanden. Als zum Beispiel Paul Gascoigne im Halbfinale der Europameisterschaft 1996 direkt vor dem Tor knapp an einem Pass von Alan Shearer vorbeirutschte, muss ja der Schuss, mit dem er Deutschland aus dem Turnier geworfen hätte, in seinem Hirn irgendwie vorher jedenfalls für eine Sekunde als Gedanke vorhanden gewesen sein, als Wille und Traum. Sodass wir festhalten können: Vor Beginn einer WM muss es in den Hirnen der Fußballfreunde eine fast unbegrenzte Menge von noch ungeschossenen Schüssen geben, von denen aber nur ein Bruchteil schließlich sich in einem Geschossensein sozusagen manifestieren kann und wird. Wiederum andererseits: War jener Schuss, mit dem Mario Götze Deutschland 2014 zum Weltmeister machte, so überhaupt vorstellbar? War er dazu nicht viel zu großartig? Sind also viele geschossene Schüsse, wie Heidegger (einst linker Läufer beim FC Meßkirch) vielleicht gesagt hätte, vor ihrem je Geschossenwerden nie ungeschossen gewesen?

Letztlich ähnelt der ungeschossene Schuss der ungetanen Tat, und hier erinnern uns Hummels’ Worte an Hermann Brochs Werk Tod des Vergil und den darin enthaltenen Dialog zwischen dem Dichter und dem römischen Kaiser Augustus. Vergil lamentiert, sein Werk (es geht um die Aeneis) sei »erschreckend ungetan«, während der Kaiser ihm sagt, es sei herrlich und Bestandteil römischen Geistes und damit Roms, deshalb auch »Besitz des römischen Volkes«. Er fährt fort: »… bloß das Ungetane gehört uns allein, vielleicht auch das Fehlgeschlagene und Erfolglose; was aber einmal wahrhaft getan ist, das gehört allen, das gehört der Welt«.

So gesehen ist zum Beispiel, um es simpel zu sagen, Götzes Tor unser aller Eigentum, während Hummels seinen ungeschossenen Schuss für sich behalten kann. Und dennoch, wenn wir ehrlich sind: Schon jetzt spüren wir für den Fall, dass die deutsche Elf in Russland unterlegen sein sollte (wem auch immer), die eine oder andere noch ungeweinte Träne in uns.