Die bedeutendste Zäsur des Tages wird seit Langem vom Fernsehen vorgegeben. Um 20.15 Uhr beginnt der Abend; diese Uhrzeit teilt die Stunden in ein Davor und ein Danach, in das vorausgehende und das eigentliche Programm. Keine andere Schwelle gibt es, die heute noch vergleichbare Gültigkeit hätte für die Ordnung des Tages: Das Glockenschlagen der Kirche morgens, mittags und abends – als »Angelusläuten« einst ein verbindliches Zeichen für die Einteilung der Arbeit auf den Feldern – verhallt mittlerweile unbemerkt und bedeutungslos. Ebenso existieren feste Bürostunden, das viel besungene »Nine to Five« des Angestelltenlebens, nur noch redensartlich; in Wahrheit sind sie durch Gleitzeit und flexible Verträge längst ausgefranst.Allein die 20.15-Uhr-Schwelle entfaltet weiterhin ihre Kraft; sie ist die Zeit des allgemeinen Anfangs, wie jeder weiß, der am Abend ohne Wissen um die genaue Uhrzeit durch die Programme schaltet. Wenn auf nahezu allen Sendern Vorspanncredits durchs Bild laufen, stellt sich die beruhigende Empfindung ein, dass es nun Viertel nach acht sei, ein kurzer Augenblick der Zusammenkunft, der Gemeinschaft: Die losen Programmfäden bündeln sich für eine halbe Minute, bilden einen dichten Strang, bevor sie für den Rest des Abends wieder in die unterschiedlichsten Richtungen führen. Wie tief sich diese Zäsur in uns eingesenkt hat, lässt sich daran erkennen, dass sie auch an all jenen Abenden Gültigkeit behält, die man nicht vor dem Fernseher verbringt. Ein Blick auf die Armbanduhr um fünf vor halb neun, in einem Restaurant oder im Kino, ist immer mit dem leisen Wissen verbunden, dass der Abend schon begonnen habe, während derselbe Blick um zehn nach acht noch ein Gefühl des Vorläufigen, des Anbrechens auslöst. Als sei die Schwerkraft der Uhrzeiger in diesen Minuten größer als sonst, als gehe ein besonderer Ruck durchs Ziffernblatt um Viertel nach acht. Es ist eigentümlich, dass die deutlichste Trennlinie des Tages eine krumme Uhrzeit ist, keine »volle« Stunde, nicht einmal eine halbe, sondern eine Stelle auf dem Ziffernblatt, die mitten in der Kurve liegt. Der fernsehgeschichtliche Grund, warum es dazu kam, liegt auf der Hand. Denn die seit einem halben Jahrhundert gültige Schwelle in unserem Zeitempfinden verdankt ihren Platz einer Sendung, die unmittelbar davor ausgestrahlt wird: der Tagesschau. Sie stand am ersten Tag des Nachkriegsfernsehens, am 26.12.1952, um 20 Uhr im Programm, mit einer Dauer von 15 Minuten – zunächst nur dreimal in der Woche, ab 1956 sechsmal, ab 1961 schließlich täglich. Der von der Tagesschau vorgegebene Viertelstundentakt wurde rasch zum bestimmenden Ordnungsprinzip des ARD-Programmschemas; noch heute müssen alle Abendsendungen in der Regel zur Viertelstunde beginnen. Die Unerschütterlichkeit der 20.15-Uhr-Zäsur hat sich immer dann besonders deutlich erwiesen, wenn andere Programme versuchten, an ihr zu rütteln. Als das ZDF im Jahr 1963 auf Sendung ging, legte es seine Hauptnachrichtensendung zunächst auf 19.30 Uhr, was bei der ARD zu Überlegungen führte, die eigenen Nachrichten ebenso vorzuverlegen. Dazu kam es nicht – und in alten Programmzeitschriften kann man nachlesen, dass das ZDF sich seinerseits rasch auf die vorgegebene Trennlinie einstimmte und sein Hauptabendprogramm in den Siebzigerjahren viermal, in den Achtzigern dann täglich um 20.15 Uhr beginnen ließ. Jede weitere Bemühung von Fernsehsendern, den vertrauten Knotenpunkt vorzuverlegen und auf das weltweit gebräuchliche »Nullzeitenschema« mit Anfängen zur vollen und halben Stunde umzustellen, war seitdem zum Scheitern verurteilt. Das ZDF im Jahr 1991 und die Privatsender Sat.1, Pro7 und Kabel 1 im Jahr 1996 brachen schon nach wenigen Monaten ihr Experiment ab, den Hauptfilm um 20 Uhr auszustrahlen, und kehrten zum traditionellen Ablauf zurück. Die 20.15-Uhr-Zäsur ist mittlerweile gegenüber jedem Begradigungsversuch resistent; das Bestreben, diese Schwelle abzutragen, käme dem Versuch gleich, den natürlichen Ablauf der Zeit zu verändern.