An den Auswanderer-Shows, wie sie seit einiger Zeit mit großem Erfolg auf allen Fernsehkanälen zu sehen sind, fällt zunächst ein Anachronismus ins Auge. Schon das Wort selbst hat einen in fremde Zeiten weisenden Klang. »Auswandern«: Es erinnert an das 19. Jahrhundert, als sich in Deutschland Jahr für Jahr Millionen von Menschen Richtung New York, Boston oder Baltimore einschifften; es weckt Assoziationen an schwere Holzkisten, Pferdekutschen, tränenreiche Abschiede für immer. Im Begriff »auswandern« ist vor allem auch das Endgültige, Unwiderrufliche dieses Schrittes enthalten; er bezeichnet eine unumkehrbare Lebens-entscheidung, wie sie vor 150 Jahren, als Schiffsreisen über den Atlantik mehrere Monate dauerten und ein Vermögen kosteten, auch in den allermeisten Fällen Realität war.
Heutzutage steht der einmaligen Entscheidung auszuwandern ein ganz anderer biografischer Entwurf entgegen: die allerorten beschworene Mobilität und Flexibilität, die ständige Bereitschaft zu Ortswechseln. Bereits Gymnasiasten wird vor dem einjährigen Schüleraustausch in der 10. Klasse nahegelegt, dass dies der erste Schritt zu einem vielversprechenden Lebenslauf sei; »Auslandsaufenthalte« gelten später als die Losungswörter erfolgreicher Bewerbungen. Wenn man derzeit also an jedem zweiten Fernseh-abend mitverfolgen kann, wie Familien oder Einzelpersonen aus Deutschland mit Sack und Pack »auswandern« und in der Schweiz, in Mosambik oder den USA eine radikal neue Existenz beginnen, dann erstaunt gerade die unzeitgemäße Schwerfälligkeit dieses Ereignisses. Die Lebensgeschichten in Sendungen wie Goodbye Deutschland: Die Auswanderer, Umzug in ein neues Leben oder Mein neues Leben stehen quer zu allem, was mittlerweile als zeitgemäße Biografie empfunden wird.
Natürlich verlassen auch am Anfang des 21. Jahrhunderts weiterhin mehr als hunderttausend Menschen pro Jahr Deutschland. Es handelt sich bei ihnen aber, wie Statistiken besagen, überwiegend um Studenten oder Akademiker, die nicht »auswandern«, sondern einen kürzeren oder längeren Abschnitt ihres Berufslebens im Ausland verbringen. Auffällig am Personal der Auswanderer-Shows ist dagegen gerade das betont Immobile seiner Existenz: Die Menschen haben in der Regel einfache Schulbildung, waren zum Teil lange arbeitslos und sprechen – ein durchgehaltenes Motiv der Folgen – die Sprache des neuen Landes nicht. Das Vergnügen für die Zuschauer besteht anschließend darin, den porträtierten Personen beim Scheitern zuzusehen, beim Misslingen noch der einfachsten Getränkebestellung in der Landessprache oder bei Konfrontationen mit der lokalen Bürokratie.
Auch wenn es tatsächlich hin und wieder Menschen in Deutschland geben mag, die nach Jahren der Arbeitslosigkeit in ein anderes Land ziehen, um dort komplett neu zu beginnen: In der Häufigkeit und Auswahl, wie die Fernsehformate diese Geschichten Woche für Woche erzählen, sind sie eher Märchen anstatt Dokumentationen, Nachahmungen einer vergangenen Epoche. Aber was sagt die rätselhafte Popularität dieses Genres aus? Vielleicht geht es um die allgemeine Sehnsucht, das komplexe, flexible Leben, das Personalchefs, Medien und Werbung Tag für Tag nahelegen, für die Dauer einer Fernsehsendung auf ein vormodernes Maß zurückzustufen; den Akt eines Umzugs auch in Zeiten, in denen er kaum noch eine biografische Zäsur bedeutet, wieder mit einer Aura von existenzieller Entscheidung zu umgeben. Ständig bemühen sich die Sendungen daher auch um eine überkommene Romantik des Abenteuers: Ein Familienvater etwa ruft am Flughafen stolz in die Kamera, er habe die Tickets nach Spanien »ohne Rückfahrschein« gebucht – und das im Zeitalter des Internets, in dem jede Flugreservierung eine Sache von Sekunden ist.