Jahresrückblick

Es müsste eine Art Negativ-Chronik geben, in der all jene Großereignisse versammelt sind, die in den Sonderausgaben der Zeitschriften und in den Erinnerungsshows des Fernsehens am Ende des Jahres fehlen: das Erdbeben in Bam etwa, die Festnahme Saddam Husseins, prominente Todesfälle wie der Susan Sontags, schließlich der epochale Tsunami in Südostasien: Allein in den letzten beiden Jahren käme eine bedeutende Reihe zusammen, allesamt Ereignisse aus der zweiten Dezemberhälfte, die in die klaffende Lücke »zwischen den Jahren« fielen. Wenn sich ein Gefängnishäftling nach der Entlassung oder ein aus langem Koma Erwachter nur durch eine Ansammlung von Jahresrück- blicken über die verlorene Zeit informieren würde, enthielte sein Wissen von Jahr zu Jahr empfindlichere Leerstellen. Der Grund hierfür liegt in der immer gewagteren Vorverlegung der Erscheinungs- und Sendetermine; die Zeitschrift Max brachte ihre »Bilder des Jahres« diesmal Mitte November heraus, die großen TV-Rückblickssendungen wurden spätestens Anfang Dezember ausgestrahlt.

Offensichtlich gilt inzwischen auch für die reine Retrospektive das journalistische Gebot der Originalität und des Erstzugriffs. Der Jahresrückblick steht im Zeichen der Konkurrenz: eine Konstellation, die sich vor allem im Fernsehen in dem Maße verschärft hat, indem die Bilanz der Ereignisse nicht mehr dokumentiert, sondern inszeniert wird. Mit der Sendung Menschen im ZDF entwickelte sich Anfang der achtziger Jahre das Genre der Jahresrückblicksshow; aus der bloßen Aneinanderreihung von Fernsehbildern unmittelbar vor Silvester, wie sie lange Zeit ausreichte, wurde nach und nach ein auf allen Sendern gängiges Unterhaltungsformat mit prominenten Studiogästen und exklusiv präsentierten Privatschicksalen. Unter diesen Voraussetzungen wächst die Angst vor Verdoppelungen und
Wiederholungen und mündet in einen bis zum Letzten ausgereizten Wettlauf um den frühestmöglichen Ausstrahlungstermin.

Grundsätzlich ließe sich fragen, welche Aufgabe dem Jahresrückblick in den Zeitschriften und im Fernsehen zukommt. Vorgeblich soll das Format noch einmal die Erinnerung an die abgelaufenen Ereignisse beschwören – aber geht es innerhalb der Logik der Massenmedien nicht vielmehr um einen Akt der Zäsur und Löschung? Mit einer letzten rituellen Erwähnung soll das Vergessen dieses Zeitabschnitts beschleunigt werden. Das Verfahren des Rückblicks, das nicht umsonst wie eine selbst auferlegte Pflicht am Ende des Geschäftsjahres wirkt, erlaubt es, mit dem 1. Januar wieder ganz von vorn anzufangen, die Ereignisse des vergangenen Jahres abzulegen, um Platz für die des kommenden zu schaffen. Die Kapazität der Massenmedien ist nicht unbegrenzt; es würde die Fernsehsender, Magazine und Zeitungen im neuen Jahr überfordern, die Nachrichten des vergangenen in Erinnerung behalten zu müssen. Man könnte die Jahresrückblicke deshalb als nach außen getragenen Reinigungsprozess der Redaktionen bezeichnen.

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Dass es in den Rückblicken um nichts weniger geht, als die spezifischen Geschehnisse eines Jahres herauszuprägen und dauerhaft im Gedächtnis zu bewahren, macht schließlich auch ihre Form deutlich: Die immergleiche Technik mit ihren Rubriken, Schnappschüssen und Totenlisten erzeugt keine Differenzen, sondern Ähnlichkeiten. So verschieden die einzelnen Jahre auch waren – der Jahresrückblick macht sie alle gleich. Das wurde vor allem 2001 deutlich, in einem Jahr, das mit einem Ereignis von nicht gekanntem Ausmaß konfrontiert wurde. Die Wucht, mit der die Anschläge vom 11. September die Weltöffentlichkeit trafen, sprengte jede Möglichkeit des Vergleichs; in den Jahresrückblicken drei Monate später jedoch war auch dieser singuläre Vorfall wie alle anderen eingegliedert in die verlässlich
rubrizierte Ordnung der Geschehnisse. Der Jahresrückblick: eine sorgfältige Inventur der Erinnerung.