Lexikon

Gehören Sie zu den Menschen, die noch ein vielbändiges Konversationslexikon im Regal stehen haben? Dann behandeln Sie es bitte gut – schon bald werden Sie es nicht mehr ersetzen können. Die aktuelle Brockhaus-Ausgabe zum Beispiel wird die letzte sein. Das hat der Verlag, der zur Langenscheidt-Gruppe gehört, kürzlich bekannt gegeben. Die 20000 Exemplare, die abgesetzt werden müssen, damit eine neue Überarbeitung sich noch lohnt, sind am Markt nicht länger zu verkaufen – das Unternehmen machte zuletzt Millionenverluste. In Zukunft, sagt Brockhaus deshalb, wird es nur noch eine Internet-Fassung geben, die man kostenlos abrufen kann und die sich allein aus Werbeeinnahmen finanziert.

Das reiht diesen Klassiker in eine schon endlose Reihe von freien Wissens-Webseiten ein, vom Mitmach-Lexikon Wikipedia bis zum neuen »Wissensportal« von Spiegel und Bertelsmann. Eine kulturelle Institution, der vielbändige schweinslederne Wissensspeicher in der Schrankwand des Bildungsbürgertums, dagegen verschwindet – und das Wehklagen ist groß.

Das Szenario, das die Propheten des Untergangs zeichnen, ist dabei immer dasselbe: Statt einer verlässlichen Truppe von bezahlten Experten, die für die Richtigkeit ihrer Informationen haften und geradestehen, darf nun jeder Laie – wie das Beispiel Wikipedia es vormacht – in der Wissensgesellschaft herumpfuschen, etwas Falsches dazuschreiben, etwas Richtiges streichen, für die eigenen unlauteren Zwecke Werbung machen und so fort. Statt die Fakten an einem Ort zu sammeln, wo sie geordnet, überprüft und in lexikalische Form gegossen werden, dürfen sie in Zukunft frei im Cyberspace flottieren: Jeder einzelne Text, jede Webseite wird zur Quelle der Unsicherheit, ständig der Veränderung unterworfen, ein Vorschlag ohne Anspruch auf Gültigkeit. Umso sehnsuchtsvoller klingt deshalb der Ruf nach einer Institution, die ein für allemal Richtigkeit garantiert, die den Bestand menschlicher Erkenntnis absichern könnte – für den einen Blick, der alle Fragen beantwortet.

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Darunter liegt nichts anderes als ein theologisches Grundmotiv: die Sehnsucht nach einem allwissenden Gott, nach der Autorität einer einzigen gültigen Stimme. Im selben historischen Prozess, in dem die Wissenschaft diese göttliche Rolle eingenommen hat und dabei die Kirche verdrängte, ist auch dem bürgerlichen Konversationslexikon seine Autorität zugewachsen – als eine Art Kondensat des gesammelten Buchwissens, eines Goldstandards der Schriftkultur überhaupt. Diese Rolle war allerdings von Anfang an absurd: Denn die ganze Moderne postuliert doch im Grunde nichts anderes als den Grundsatz, dass jeder, der wirklich etwas wissen will, gerade niemandem vertrauen darf. Kein einzelner Vorstoß kann der Wahrheit überhaupt nur nahe kommen: Nur der ständige Abgleich der verfügbaren Quellen, ein niemals abgeschlossener Prozess des Verifizierens und Falsifizierens, des Abwägens und Umdeutens kreist sie ganz langsam ein.

Genau diesen philosophischen Prozess aber ermöglicht heute ganz real das Internet. Besser, schneller, umfassender als jemals zuvor. Für jedes vorstellbare Thema, für jeden denkbaren Benutzer. Nicht die einzelne, fehlerbehaftete Webseite ist dabei relevant, sondern erst die Summe der besten Treffer, die wir selbst gefunden haben, der permanente Vergleich. Anders gesagt: Die Aufgabe, sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen, muss uns niemand mehr abnehmen – schon gar nicht ein einzelnes Lexikon. Bei Licht betrachtet konnte es das ohnehin noch nie – es hat uns nur falsche Sicherheit vorgegaukelt.

Die Skepsis, mit der wir stattdessen dem Wissen des Internets nun gegenübertreten, ist daher nichts anderes als ein kultureller Quantensprung. So wenig wir noch geneigt sind, einzelnen Politikern zu trauen, einzelnen Institutionen, Zeitungen, Nachrichtenquellen – so wenig sollten wir auch in der Welt des Wissens noch länger der Illusion anhängen, es könne andere gültige Wahrheiten geben als die, die wir selbst überprüft haben.