Schon wieder so ein Modeding aus Japan. Erstaunlich in seiner Unentrinnbarkeit. Fast alle großen Tageszeitungen sind schon dabei, erst in England, dann in Amerika, jetzt bei uns. Bücher in Millionenauflage, Hilfsprogramme im Internet, Downloads fürs Handy. Der neue Trend auf dem Markt für gehobene Zeit-vernichtung. Wie Kreuzworträtsel, aber ohne Worte. Wie Mathematik, aber ohne Rechnen. Und echt global: Erstmals beschrieben von einem Schweizer Mathematiker, perfektioniert in den USA und in Australien, popularisiert von einem japanischen Verleger. Und jetzt: im Morgenflieger, im Abendflieger, in der S-Bahn, überall. Dahinter muss ein Prinzip stecken, das man nur spielend erforschen kann. Persönliche Recherche, selbstverständlich während der Arbeitszeit.
Wer sein erstes Sudoku in Angriff nimmt, hat schon die Fakten im Kopf: dass es nur eine einzige Regel gibt; dass man statt Zahlen auch Symbole oder Farben verwenden könnte; dass keinerlei Allgemeinbildung nötig ist, um die Lösung zu finden. Alles klar: Zerstreuung für PISA-Versager. Denksport für Analphabeten. Ein Beweis mehr für das schleichende Verschwinden aller kulturellen Fähigkeiten.
Und dann? Dann schauen einen die Zahlenreihen, Zahlenspalten und Zahlenquadrate an und wollen gefüllt werden. Jeder Hochmut verfliegt. Es wird komplex. So komplex, dass man die Lösungswege zum Beispiel kaum beschreiben kann, ohne sie grafisch auf eine Serviette zu kritzeln.
Was man dagegen beschreiben kann, ist der Grundsatz des Sherlock Holmes: Hat man alles Unmögliche ausgeschlossen, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein. Dieses Prinzip liegt Sudoku zu Grunde. Man sucht das magische Feld, in das man alle denkbaren Ziffern NICHT eintragen darf – bis auf eine. Die malt man dann fett ins Kästchen, lehnt sich zurück und nippt am Tomatensaft. Dann sucht man den nächsten logischen Fixpunkt, und so fort. Wenn jedes Feld eine offene Frage ist, dann gibt Sudoku eine eindeutige Antwort. Zwei richtige Lösungen existieren nicht. Das ist schön. Das hat was Beruhigendes und Endgültiges. Das Leben selbst, dieses Jammertal der unbegrenzten Möglichkeiten, diese ewige Grauzone des Durchwurstelns, funktioniert ja leider nicht immer so.
Hier liegt der Kern des Rituals: Wer sein Sudoku hervorholt, flieht durchaus vor der Außenwelt. Manchmal. Sucht inneren Halt, klare Regeln und das hochbrisante Lustgefühl, die letzte noch mögliche Ziffer in das letzte noch freie Feld einzufügen. Dieses Gefühl kann süchtig machen. Es kann, Gott bewahre, genauso lange dauern wie eine Runde Sex, sich am Ende aber befriedigender anfühlen. Bringt Sudoku also Autisten hervor, die in imaginäre Reinsträume der Logik flüchten? Ist der Sudoku-Spieler ein Ziffernhausmeister? Ein seelischer Kästchenblockwart? Ach nee. Nicht wirklich. Alles halb so schlimm.
Viel eher ist er ein Mensch des Konjunktivs. Britische und amerikanische Forscher haben einen Zusammenhang nachgewiesen: Wo immer Sudoku populär wird, steigt der Verkauf von Bleistiften explosionsartig an. Es geht gar nicht anders. Weil man beim Spielen ständig eine Zahl übersieht und dann wieder viel radieren muss. Weil bei den schwereren Sudokus schnell der Punkt kommt, wo ein Lösungsweg nur durch Ausprobieren weitergeht. So ein Blindflug kann, auch wenn er falsch ist, eventuell erst ganz am Ende auffliegen. Siehe auch: Irak-Krieg, Angela Merkel, Hartz IV. Auch die sind, wenn wir ehrlich sind, bisher nur mit Bleistift eingetragen.
So wird Sudoku zum Symbol für die großen Strategien der Gegenwart: Am Anfang sieht es ganz gut aus, in der Mitte passabel, im letzten Drittel okay – und am Ende hilft doch wieder nur der ganz große Radiergummi.