SZ-Magazin: Sieben Jahre ist es jetzt her, dass Sie sich verletzt haben. Sie konnten damals kaum noch laufen. Was war passiert?
Jan Frodeno (38): Ich war in Südafrika im Trainingslager und hatte plötzlich Schmerzen im Bein. Ich war erst bei Ärzten vor Ort, dann bin ich zu Spezialisten nach München und in die USA geflogen. Vor mir standen die besten Ärzte der Welt und haben gesagt: »Tut mir leid, Junge. Wir wissen nicht, woran es liegt und wie es weitergeht.« Es war eine Odyssee um den Globus.
Was hat die Verletzung in Ihrem Leben verändert und macht sie zum Fall Ihres Lebens?
Die Verletzung hat den zweiten und deutlich schöneren Teil meiner Karriere eingeläutet. Ich habe den Spitzensport mehr als Privileg gesehen und mir ist mehr aufgefallen, wie viele Menschen überhaupt nicht laufen können. Ich bin dankbarer geworden.
Was war letztlich die Diagnose?
Ein sensorischer Nerv in der Wade war verletzt. Es dauert sechs Monate, bis so ein Nerv heilt – wenn er überhaupt heilt.
Wie wurde herausgefunden, wie man Ihnen helfen konnte?
Ich bin monatelang von einem Experten zum anderen gereist – am Ende war es mein Haus-Orthopäde in Saarbrücken, der die Ursache fand. Er hat sich nach Praxisschluss mit mir und seiner Frau hingesetzt und die beiden haben mich den ganzen Abend untersucht: Sie ist Plastische Chirurgin, hat den Nerv betäubt und der Schmerz war weg: Da wussten wir, woran es lag.
»Guter Schmerz ist außer Atem zu sein, einen innerlich reinen Moment zu haben, in dem man an überhaupt nichts anderes denkt als an sein Ziel«
Kann man Ihre Karriere in ein Vorher und ein Nachher einteilen?
Ja. Vorher ging es viel um Selbstkasteiung, jegliche Form von Genuss war zu vermeiden, ganz nach dem Motto: Was wehtut, macht schnell. Das hat mir in jungen Jahren einiges gebracht, aber auf lange Sicht kann man nicht gegen seinen Körper arbeiten, sondern muss Körper und Geist zusammenbringen. Dann kann man ganz andere und vor allem viel langfristigere Ziele erreichen.
Gehört Schmerz zum Sport?
Mit dem Schmerz ist es so: Es gibt ihn in tausenden Formen, guten und schlechten Schmerz. Guter Schmerz ist außer Atem zu sein, einen innerlich reinen Moment zu haben, in dem man an überhaupt nichts anderes denkt als an sein Ziel. Das ist mit Schmerz verbunden, aber es geht nicht um ihn. Man merkt den Schmerz erst am Muskelkater am Tag danach – es ist paradox, man hat Schmerzen und gleichzeitig sehr viel Spaß. Früher dachte ich, es muss wehtun, um gut zu sein. Im Ausdauersport spielen der empfundene Schmerz und die gefühlte Verausgabung eine große Rolle: Wenn man nicht noch näher an sein Limit gehen will, ist der Punkt des Scheiterns nah.
Wie groß war Ihre Verzweiflung, als Sie nicht mehr laufen gehen konnten?
Wenn man verzweifelt ist, haben die Selbstzweifel ja schon gewonnen, man ist übers Anzweifeln schon hinaus. Diese Selbstzweifel sind auch sehr wichtig für Höchstleistungen. Verzweiflung erschafft ein Müssen: Ich muss gesund werden, weil ich sonst in meiner Welt komplett durchdrehe. Die Verzweiflung kann ein starker Antrieb sein, sie hat mich um die ganze Welt geschickt. Diese mysteriöse Suche war aufreibend, aber das schwerste an der Verletzung war, dass ich nicht – wie gewohnt – durch Sport abschalten und mich abreagieren konnte.
Was bedeutet Ihnen das Laufen?
Das Laufen ist mein tägliches Ritual, mein Herz, mein Alles. Während meiner Verletzung sehnte ich mich so sehr nach dem Laufen, dass ich sogar die Momente zurückwünschte, in denen mir das Laufen zu viel wurde: Von den 100 Kilometern pro Woche, die ich im Schnitt laufe, macht natürlich nicht jeder Spaß. Aber Bewegung ist für mich Leben. Ohne Bewegung bin ich ungenießbar, ich muss an die frische Luft.
Was hat Ihnen stattdessen geholfen?
Mein Vater ist zu mir in die Reha geflogen und hat mit mir Rocky Teil 1 bis 5 geguckt. Rocky Balboa steht ja auch immer wieder auf und gibt sich nicht geschlagen. Das war eine tolle Zeit mit meinem Vater. Er ist selbst jemand, der nie aufgibt.
Wie hat es sich angefühlt, nach so langer Zeit wieder richtig laufen zu können?
Die erste zehnminütige Laufeinheit war die schönste. Dieses Gefühl von Freiheit hatte ich so sehr vermisst. Bereits in diesen ersten zehn Minuten konnte ich wieder daran glauben, an die Spitze zurückzukehren. Beim ersten Wettkampf kommen dann zwar wieder Stress und Erfolgsdruck dazu. Aber das erste Mal wieder laufen zu gehen, direkt von der Arztpraxis in den Saarbrücker Stadtwald, war ein purer Moment.
Wie viel bewegen Sie sich und trainieren Sie heute?
Bei meinem Training reden wir nicht mehr von Bewegung, sondern von meinem Beruf. Ich trainiere 35 Stunden die Woche und habe zehn Stunden Physiotherapie. Ich stehe um 6:30 Uhr auf und mache etwas Pilates oder Athletikübungen. Wenn eines meiner beiden kleinen Kinder schon wach ist, fällt das vielleicht auch mal aus. Eine Stunde später gehe ich schwimmen und frühstücke danach. Es folgt eine Radeinheit, die zwischen zweieinhalb und vier Stunden dauert. Dann mache ich Mittagessen und ein kleines Schläfchen, laufe daraufhin zwischen ein und zwei Stunden und habe dann Physiotherapie.
Wenn man etwas gefunden hat, worin man besser ist als alle anderen: Wie groß ist die Angst, kein zweites Mal etwas zu finden, das einem so viel gibt?
Das ist die Million-Dollar-Frage! Da ich schon einmal gefunden habe, was ich liebe, weiß ich, dass es sich lohnt zu suchen. Viele Menschen machen sich gar nicht erst auf den Weg. So schön Sicherheit auch ist: Sie hat keine Tiefen, dafür auch keine Höhen. Nur mit Leidenschaft können wir über uns hinauswachsen, aber eben auch mal liegen bleiben auf dem Weg.