Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Suizid zu berichten. Da es in diesem Interview aber in erster Linie um die Arbeit der Telefonseelsorge geht, die wir unterstützen möchten, haben wir hier eine Ausnahme gemacht. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten. Regionale Krisendienste finden Sie hier.
SZ-Magazin: Wie sind Sie als Psychologin zur Telefonseelsorge gekommen?
Ruth Belzner: Im Psychologiestudium kam ich mir wie eine Köchin vor, die das Kochen anhand von Kochbüchern lernt. Mir fehlte die Praxis, das Zwischenmenschliche. Die Essenz dieses Berufs. Bei der Telefonseelsorge hatte ich das Gefühl, eine gute Ausbildung zu bekommen, wie man mit Menschen in Krisensituationen umgeht. Dass mich die Arbeit so faszinieren würde, war da noch gar nicht abzusehen.
Was fasziniert Sie?
Dass manchmal ein einziger Kontakt reicht, um einem Menschen zu helfen. Um die Person zu entlasten, neue Sichtweisen auf ein Problem zu eröffnen, das Gefühl zu vermitteln, dass sich jemand für sie interessiert und zuhört. Viele Menschen, die bei uns anrufen, erleben das selten. Die Bandbreite der Anrufenden reicht von Menschen in schwersten persönlichen Krisen über solche mit Beziehungs- oder Alltagsproblemen bis hin zu jenen, die einfach eine Entscheidungshilfe benötigen oder ein bisschen Zuspruch.
Mit welchem Gefühl geht man zur Arbeit, wenn man weiß, dass es um Leben und Tod gehen kann?
Natürlich können die Gespräche belastend sein. Als Hauptamtliche bilde ich ehrenamtliche Telefonseelsorger aus. Denen sage ich immer: »Ihr müsst wissen, dass ihr nicht die Welt retten werdet. Eure Verantwortung ist es, aufmerksam, respektvoll und ehrlich zu sein. Was die Anrufenden aus dem Gespräch machen, ist allein ihre Verantwortung.« Denn die Wahrheit ist: Man kann den Menschen nur so sehr helfen, wie sie sich helfen lassen wollen. So war es auch bei der jungen Frau, die der Fall meines Lebens wurde.
Erzählen Sie von dem Gespräch mit ihr.
Es war ein Sonntagnachmittag 1986, mein letztes Gespräch in der Schicht. Eine junge Frau Ende Zwanzig rief an und fragte mich: »Kann ich mal mit Ihnen reden?« Ich bejahte, und sie fragte: »Kann ich mit Ihnen auch über alles reden?« Als ich erneut bejahte, sagte sie mir, dass sie einfach noch einmal ein Gespräch führen wollte. Denn dies sei der letzte Tag ihres Lebens.
Wie haben Sie reagiert?
Ich fragte: »Meinen Sie damit, dass Sie sich heute das Leben nehmen wollen?« Sie antwortete: »Nicht wollen. Ich werde es tun.« Sie machte mir dann unmissverständlich klar, dass sie nicht überredet werden wollte oder Hilfe benötigte und war auch sehr auf der Hut. Wenn ich mich im Gespräch bewegte und sie das hörte, fragte sie direkt: »Sie benachrichtigen doch niemanden, oder?«
Kann oder sollte man denn in einer solchen Situation jemanden benachrichtigen? Die Polizei oder Feuerwehr?
Nein, solange wir jemanden als entscheidungsfähig wahrnehmen, tun wir das nicht. Das würde gegen unsere Verschwiegenheitspflicht verstoßen, wir sichern absolute Anonymität zu. Das gilt auch, wenn wir das Gefühl haben, jemand bräuchte Schutz oder Hilfe. Dann können wir den Personen nur Mut machen, sich an Hilfestellen zu wenden. Aber ohne die Einwilligung der Person können wir nichts tun. Die einzige Ausnahme davon ist die Ankündigung einer schweren Straftat. Wenn jemand anruft und sagt, er habe eine Waffe und werde jetzt seine Ex-Freundin erschießen, endet die Verschwiegenheitspflicht und wir können das an die Polizei weitergeben.
Wie verlief das Gespräch mit der Frau?
Ich bat sie, mir von sich zu erzählen. Man fragt besser nicht direkt, warum der- oder diejenige sich das Leben nehmen will. Denn das enthält immer schon die Aufforderung zur Rechtfertigung, zudem kann niemand von außen die Gewichtigkeit der Gründe einschätzen. Also erzählte sie: Dass sie schon immer das erfolglose schwarze Schaf einer ansonsten sehr erfolgreichen und prominenten Münchner Familie gewesen war. Dass sie das Gefühl hatte, in ihrem Leben sei von Anfang an sehr viel schiefgelaufen, dass sie sich stets unverstanden und fehl am Platz fühlte. Und auch, dass sie bereits einen gescheiterten Suizidversuch hinter sich hatte, nach dem sie querschnittsgelähmt war.
»Nicht jeder Anruf eines suizidalen Menschen ist der Ruf nach Rettung«
Haben Sie dennoch versucht, Sie umzustimmen?
Anfangs. Ich habe versucht, ihr darzulegen, dass sie andere Optionen hat, die allerdings erlöschen, wenn sie sich tatsächlich umbringt. Aber es war schnell klar, dass sie das nicht wollte. Nicht jeder Anruf eines suizidalen Menschen ist der Ruf nach Rettung. Das wäre schön, aber so ist es nicht. Also tat ich das, worum sie gebeten hatte, und sprach mit ihr. Wir redeten 40 Minuten, ich spürte das Gefühl intensiver Nähe. Ihre letzten Worte habe ich noch immer im Ohr: »Danke, dass ich nochmal mit Ihnen reden konnte. Jetzt ist gut, auf Wiedersehen.« Ich fragte zurück: »Auf Wiedersehen?« Sie sagte: »Naja, ich hoffe ja schon, dass ich in den Himmel komme. Und Sie kommen da ganz sicher hin. Und ich glaube, ich werde Sie erkennen.«
Was empfanden Sie, als das Gespräch beendet war?
Das ist schwer zu beschreiben. Einerseits war es eine große Last. Andererseits war ich erleichtert, dass das Gespräch gut verlaufen war. Ich habe sie nicht vor dem Suizid retten können. Aber es hat trotzdem einen Wert gehabt, für sie da zu sein. Auch später noch, auf dem Heimweg, dachte ich: »Das ist schrecklich. Aber ich hätte auch kein Recht gehabt, es ihr auszureden.« Denn dann hätte ich sie bei dem letzten Gespräch, das sie führen wollte, im Stich gelassen. Ein Gefühl der Verzweiflung kam erst später auf.
Wann?
Zwei Tage später verließ ich morgens meine Wohnung, vor der ein stummer Zeitungsverkäufer stand. Da sie einen prominenten Familiennamen trug und ihre Suizidmethode ziemlich spektakulär war, füllte ihr Suizid die Titelseite der Bild. Es gab damals noch nicht den Pressekodex zur Berichterstattung über Suizide. Als ich die Zeitung sah, wusste ich sofort, dass es um sie ging. Sie hatte mir ihren Namen nicht genannt, wohl aber, dass sie aus einer prominenten Familie kam. Auch die Suizidmethode passte zu dem, was sie mir am Telefon erzählt hatte. Ich fing an zu weinen. Und es kamen die Selbstzweifel. Hätte ich nicht doch etwas tun können? Habe ich das zugelassen? Habe ich genug getan, um das zu verhindern? Das war ein sehr schwieriger Moment.
Was taten Sie?
Ich rief selbst bei der Telefonseelsorge an. Bei meiner Chefin, um genau zu sein, und sagte: »Ich brauche euch jetzt.« Sie wusste schon, warum ich anrief. Sie hatte meine Übergabe gelesen, eins und eins zusammengezählt, und sagte: »Komm einfach her.« Im Büro redeten wir über das Telefonat und wie ich es erlebt hatte. Ich fragte sie, ob ich nicht doch etwas hätte tun können. Ob nicht die Tatsache, dass die junge Frau überhaupt angerufen hatte, ein Signal gewesen war, dass sie Hilfe wollte. Meine Chefin glaubte ebenfalls, dass ich nichts hatte tun können. Sie gebrauchte damals ein Bild, das mir sehr geholfen hat. Sie sagte: »Stell dir vor, du willst mit der Bahn irgendwohin fahren. Vielleicht willst du, dass dich jemand zum Bahnhof bringt. Aber du willst nicht, dass dich dieser jemand vom Einsteigen abhält.«
Wie sehr hat Sie dieses Gespräch geprägt?
Inzwischen bin ich dankbar für diese Erfahrung. Zum einen, weil ich nach wie vor glaube, dass ich in diesem Moment für die junge Frau eine ganz wichtige Rolle spielen durfte. Nämlich ihr eine für sie letzte gute Erfahrung zu vermitteln. Das hat mir vor Augen geführt, dass es ein hohes Gut ist, auf zugewandte, aufmerksame Weise für jemanden da zu sein. Zum anderen, weil ich mich in der Folge intensiv mit den Grenzen des Machbaren, mit Ohnmacht in diesem Beruf auseinandersetzte. Nichts tun zu können, gehört nämlich auch dazu. Damit muss man umzugehen lernen, und das habe ich anhand dieses Gesprächs zu verstehen angefangen. Und nicht zuletzt war die Erfahrung für mich wichtig, weil ich zum ersten Mal gemerkt habe, dass ich auch für mich selbst sorgen und mir Hilfe holen muss, wenn mich etwas, so wie die junge Frau damals, aus der Balance bringt.
Denken Sie noch oft an die junge Frau?
Es ist für mich eine Begebenheit ohne offenes Ende. Ich überlege nicht mehr, ob ich etwas hätte anders machen können. Aber hin und wieder denke ich an sie. Und wenn ich eine Fortbildung leite und es geht um Anrufe suizidaler Menschen, erzähle ich manchmal ihre Geschichte. Ich denke mit viel Sympathie an sie. Und mit dem Bedauern, dass es so kam, wie es kam.