In den Fünfzigerjahren gab es bei uns Tankstellen, die aussahen wie riesige Pilze, in den USA fand man sie am Highway, aufgeblasen zu Monster-Kiosken. Das Vorbild: der Fliegenpilz, Amanita Muscaria, bei Kindern beliebt, aber ungenießbar – passend zum Fast Food.
Seit einem halben Jahrhundert dienen Pilze als Architekturmodelle – ihre geschwungenen Stiele bilden die Stützen, ihre Krempen das Dach. Sie stehen entweder allein oder verteilen sich in kleinen Streusiedlungen. Die Parasole etwa mögen es städtisch und ordnen sich im Kreis wie öffentliche Bauten um einen Platz. Längst haben Architekten den Pilzen die Lamellen und Röhren abgeschaut, um Oberflächen zu vergrößern oder Tragwerke zu stärken.
Dass Architekten und Designer sich an der Natur orientieren, hat Tradition: Die Jugendstil-Baumeister schauten sich ihre Ornamente ab, Antoni Gaudí experimentierte mit ihrer Statik, Frei Otto fand Spinnennetze und Baumkronen inspirierender als Bücher über Baugeschichte. Seit ein paar Jahren erleben wir eine Renaissance des Organischen: Unter dem Begriff »Blob« versammeln sich quallige, wurstige Gebilde, die unsere Vorstellung von einem ordentlichen Gehäuse aus Wänden und Decken ablösen sollen, zum Beispiel das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart oder das neue Kunsthaus in Graz.
Warum baut man auf einmal so? Erstens: Weil man es kann, besser: weil die neueste Software es kann, die nicht mehr nur die Ideen des Architekten durchrechnet, sondern imstande ist, selbst zu entwerfen. Am fortschrittlichsten ist da die Autoindustrie, deshalb erinnern viele Neubauten nicht zufällig auch an Karosserien. Dem Computer sind alle Dimensionen und Formen recht, da kann der Architekt oft nur noch staunen.
(Foto: Portabella-Pilz. Eine Mittelstütze und ein Dach drüber – so baute man früher die Pilze nach. Heute orientieren sich Architekten lieber an kugeligen Bovisten.)
Der zweite Grund für die »Formlosigkeit« moderner Architektur ist ein philosophischer: Schon in den Achtzigerjahren hatte der amerikanische Architekt Peter Eisenman gefordert, dass nach dem brüchig gewordenen Gottes- und Weltbild der aus dem Zentrum gerückte Mensch sich die Erde nicht mehr untertan machen dürfe. Als Folge kann sich heute auch die Architektur zwanglos entfalten, ohne formalen Gesetzen folgen zu müssen.
Ob diese neue Un-Ordnung aber nun ins Chaos führt oder sich eine »natürliche« Harmonie einstellen wird, ist offen. Zwar versprechen sich die Avantgardisten durch effektivere Konstruktionen eine geringere Verschwendung von Ressourcen – aber die ideale Architektur ist damit noch lange nicht erreicht. Warum? Beton und jedes andere Baumaterial können nicht durch Zellteilung ein Tragwerk bilden, so bleiben Blobs oft eine Mogelpackung, eine formale Allüre.
(Foto: Shimeji-Pilze. Sie haben nicht nur ein leichtes Nussaroma, sie sehen auch aus wie die Wohnsiedlung aus einem Science-Fiction-Film.)
Sie sehen wie gewachsen aus, bringen aber keine Vorteile, solange keine sozialen und ökologischen Aspekte berücksichtigt werden. Die neue Karlsruher Mensa beispielsweise, deren schwefelgelbes Stützengekröse an einen auseinandergezerrten Cheeseburger erinnert, besteht nicht etwa aus einem Kunststoff, der zwischen Boden und Dachdeckel geschäumt und ausgehärtet wurde. Das klappt vielleicht bei McDonald’s oder im Miniaturmodell, aber nicht bei großen Proportionen.
(Foto: Portabella-Pilz. In der Architektur benutzt man Lamellen, um die Masse einer tragenden Decke zu verringern. Pilze machen es genauso.)
Das Gestell wurde also konventionell aus Brettschichtholzrahmen gezimmert und mit einer Spritzfolie wasserdicht überzogen. Ähnlich die schwebende »Energie-Wolke« der Münchner BMW-Welt, in der die Schöpfer den Traum von einer »fliegenden Architektur« verwirklicht sehen: Sie ist aus tonnenschweren Stahlprofilen verschweißt – als hätte Fitzcarraldo das Eisenwerk über den Mittleren Ring geschleppt. Eine großartige Geste für den Auftraggeber, dessen Autos entschieden umweltfreundlicher und in jeder Hinsicht moderner sind als seine Architektur.
Von den Pilzen bauen lernen? Vorsicht! Die meisten sind giftig.
Der Autor Wolfgang Bachmann ist Chefredakteur der Architekturzeitschrift »Baumeister«.
(Foto: Enoki-Pilze. Die Natur schafft mit wenig Material die ideale Form: Viele gebündelte Stiele sorgen für große Stabilität.)