Die Gewissensfrage

»Ein unter Depressionen leidender Student bleibt in einer wichtigen Klausur knapp unterhalb der geforderten Mindestpunktzahl. Ist es in Ordnung, da ein Auge zuzudrücken, weil es ihn extrem belasten oder vielleicht sogar überlasten würde, wenn er durchfiele? Als Korrektor könnte ich mir sagen, dass der Student nicht über sein volles Leistungsvermögen verfügte. Aber ist es nicht trotzdem unfair gegenüber den anderen, die durchfallen?« JOCHEN K., DORTMUND

Als Korrektor gilt für Sie eine wichtige Regel: Allen Studenten gegenüber gerecht zu sein und niemanden zu bevorzugen. Um dies zu erreichen, müssen Sie die Leistung nach dem beurteilen, was in der für alle gleichen Prüfungssituation erbracht wurde, also danach, was auf dem Papier steht. Nun ist das Umgehen von Regeln nicht gerade mein Steckenpferd, ich plädiere eher für solche, die Sonderfälle einbeziehen, hier etwa durch eine mündliche Nachprüfung. Aber wenn es jemanden gibt, der Erfahrung haben muss, wie man Abweichungen von Dogmen rechtfertigt, dann ist es die katholische Kirche.Und tatsächlich hat sie in ihre Moraltheologie ein Prinzip aufgenommen, das sie allerdings, warum auch immer, nicht groß an die Tür des Petersdoms schlägt oder den päpstlichen Lehrschreiben beiheftet: Die Epikie, zu deutsch Billigkeit. Sie geht zurück auf Aristoteles, der feststellte, dass das Gesetz – und damit das Gerechte – allgemein formuliert sein müsse. Deshalb brauche man eine »Korrektur des gesetzlich Gerechten«, die es erlaubt, in besonderen Einzelfällen von der Regel abzuweichen: »Billigkeit ist die Korrektur des Gesetzes da, wo es wegen seiner all-gemeinen Formulierung mangelhaft ist.«Dies griff der Kirchenlehrer Thomas von Aquin auf, der meinte, dass es in manchen Fällen nicht nur erlaubt, sondern sogar Pflicht sein könne, »unter Absehen vom Gesetzeswortlaut dem zu folgen, was die innere Gerechtigkeit und der gemeinsame Nutzen fordern«. Epikie sei »gleichsam die höhere Regel der menschlichen Handlungen«.Ein Abweichen ist also in besonderen Einzelfällen moralisch vertretbar. Allerdings mit größter Vorsicht, denn Regeln haben ja oft ihren Sinn: Bei der Abschlussprüfung eines Kerntechnikers etwa, der mit dem Zeugnis dann ein Atomkraftwerk steuern darf, würde ich persönlich es begrüßen, wenn Sie eine auf Fachwissen und Belastbarkeit beharrende Strenge walten ließen.