Gebietet nicht allein die Toleranz gegenüber dem Glauben Ihres Bruders, seinen Wunsch zu erfüllen? Schließlich geht es ja um seine Hochzeit, nicht Ihre. Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst definiert Toleranz als das Dulden oder Respektieren von Überzeugungen, Handlungen oder Praktiken, die einerseits als falsch angesehen, andererseits aber nicht vollkommen abgelehnt werden. Da passt vieles, aber eben nicht alles. Zu den Charakteristiken dieser Tugend gehört, dass es um Überzeugungen anderer geht, welche zu respektieren sind, nicht jedoch um etwas, was man selbst tun soll. Umgekehrt stellt eher das Ansinnen Ihres Bruders eine Intoleranz gegenüber Ihrer Glaubenslosigkeit dar; dem brauchen Sie sich nicht zu beugen.
Spricht nun etwas gegen Ihre Idee der gestrippten Fürbitte? Leider ja, sie scheint mir – verzeihen Sie – unsauber. Entweder Sie grenzen sich öffentlich klar gegen den sakralen Rahmen ab, was einem Affront nahekäme, oder das dezente Auslassen der Glaubensformeln hat bei sonstiger Einbettung in die Liturgie etwas von der doppeldeutigen Rede oder des geheimen Vorbehalts; fragwürdige Techniken der Kirchengeschichte, mittels derer inhaltliche Lügen oberflächlich gerechtfertigt werden sollten.
Damit müssten Sie als Ergebnis, um sauber zu bleiben, den Wunsch Ihres Bruders kategorisch ablehnen. Theoretisch mag das zutreffen, aber manchmal bleibt wohl keine andere Wahl, als sich schmutzig zu machen, speziell aus Zuneigung. »Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird«, heißt es in dem typischen Hochzeitszitat bei Paulus (1 Kor 13, 8). Und da die Bibel an dieser Stelle weniger als Glaubens- denn als Weisheitsbuch fungiert, wage ich es, sie paradoxerweise zur Lösung Ihres Nicht-Glaubensproblems heranzuziehen.
Illustration: Jens Bonnke