Einen gewissen Hinweis könnte schon die Tatsache geben, dass Ihre Mutter wegen ihrer freundlichen Unterstützung für fünf Jahre ins Gefängnis kommen könnte. So hoch bedroht das deutsche Strafgesetzbuch unbefugtes Wählen. Ein Maß, das man sonst von Delikten wie Diebstahl, Betrug oder vorsätzlicher Körperverletzung kennt.
Hinter dieser drakonisch anmutenden Strafdrohung steckt eine Wertung: Die Stimmabgabe, das kleine Kreuzchen auf dem Wahlschein, stellt einen zentralen Punkt der Demokratie dar. Man befindet sich hier also nicht bei irgendeiner Ausführungsmodalität, sondern sozusagen im Herz der Regierungsform. Diesen Urakt der Volksherrschaft will der Gesetzgeber besonders schützen. Auf der anderen Seite steht Ihr berechtigter Wunsch, Ihre Stimme für die Wahl abzugeben – ein essenzielles Anliegen der Demokratie. Das erreichen Sie durch Ihr Vorgehen, einfach, unkompliziert und relativ sicher. Dennoch verstoßen Sie gegen die Wahlordnung. Es stehen sich hier gegenüber die Idee, möglichst jeder Stimme Gehör zu verschaffen – notfalls auch gegen geltende Bestimmungen –, und die Notwendigkeit
sicherzustellen, dass das Wahlergebnis nicht verfälscht wird – durch genaue Vorschriften.
Wie ist dieser Konflikt zu lösen? Auch wenn man im ersten Moment meinen möchte, der Mitwirkung, also Stimmabgabe, sollte in einer Demokratie stets der Vorzug gegeben werden, dürfte es genau umgekehrt sein.
»Kein demokratischer Wille ist denkbar ohne Regeln, die bestimmen, wie dieser Wille entstehen soll«, schreibt der Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers und betont, dass nicht informelle Beiträge, sondern nur genau definierte Verfahren freie und gleiche Möglichkeiten der Mitentscheidung garantieren könnten.
Deshalb halte ich Ihr Vorgehen für falsch, auch wenn ich nicht behaupten will, dass Ihre Mutter dafür verdient hat, mehrere Jahre Tüten zu kleben.
Bundesgerichtshof, BGHSt 29, 380 (Urteil vom 29.10.1980 – 2 StR 207/80) = NJW 1981, 588
Amtsgericht Kleve Urteil vom 29.7.1980 - 13 Ls 5 Js 871/79
„Das Ergebnis der Wahlhandlung ist unrichtig, wenn es nicht der unverfälschte Ausdruck des gesetzmäßig erklärten Willens des Wählers ist.“ Reichsgericht, RGSt 37, 233 (237)
Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, Wagenbach Verlag Berlin 2008
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Illustration: Dirk Schmidt