Muss ein Auktionsverfahren aus moralischer Sicht falsch sein? Die Bildung des Preises über den Markt kann man auch als gerechten Mechanismus ansehen: So wird festgestellt, wie viel die Wohnung den Käufern tatsächlich wert ist. Wer sich in eine Wohnung verliebt hat, will vielleicht mehr bezahlen als jemand, der sie nur ganz passend findet; und eine Auswahl des Käufers danach wäre ja sinnvoll. Allerdings kann es passieren, dass die wirtschaftlich Schwächeren auf der Strecke bleiben; insofern ist Ihr Ansatz, das abzulehnen, ehrenhaft – zumal Sie dabei ja auch auf Geld verzichten.
Damit bleibt die Frage, welches Verfahren dann gerecht sein könnte: Zu losen, also Streichhölzer zu ziehen, stellt den Extremfall der Gleichbehandlung dar: Jeder hat unabhängig von allen anderen Aspekten exakt die gleichen Chancen, es entscheidet der Zufall. Das Windhundverfahren »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« geht abgeschwächt in dieselbe Richtung. Nur ist – das mag zunächst überraschen – alle gleich zu behandeln nicht unbedingt das Gerechteste. Stellen Sie sich einmal vor, es ginge um die einzige behinderten-gerechte Wohnung weit und breit. Wäre es da wirklich gerecht, zwischen einem Rollstuhlfahrer und zwei passionierten Bergsteigern zu losen? Die Gleichbehandlung hat allerdings den Vorteil, dass man sie nicht begründen muss. Nicht wer gleich, sondern wer ungleich behandeln will, braucht dafür relevante Gründe.
Praktisch bedeutet das, wenn Sie gerecht sein wollen und nicht losen, benötigen Sie zusätzliche Informationen: Vielleicht braucht oder möchte einer der Interessenten die Wohnung aus bestimmten Gründen mehr als die anderen. Wenn Sie den Aufwand scheuen, das zu eruieren, hilft nur noch das Los – es sei denn, sie vertrauen Ihrem Bauchgefühl, mit dem man als moralisch reflektierender Mensch in Fällen wie diesem oft zu erstaunlich guten Ergebnissen kommt.
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Wenn Sie mehr über das Thema lesen wollen:
Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993, 18. Vorlesung Gerechtigkeit
Ernst Tugendhat feierte am 8.3.2010 seinen 80. Geburtstag, wozu wir ihm hier nachträglich gratulieren wollen.
Zu Fragen der Gerechtigkeit grundlegend:
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5. Buch
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1979, für das Thema hier vor allem § 17
Zur Entscheidungsfindung aus dem Bauchgefühl heraus:
Bas Kast, Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft – Die Kraft der Intuition, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2007
Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, Goldmann Verlag München 2008
Die Redensart „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ stammt aus dem mittelalterlichen Rechtsbuch „Sachsenspiegel“ der am Beginn des 13. Jahrhunderts von Eike von Repgow verfasst wurde.
Dort heißt es:
"Wer zuerst zur Mühle kommt, soll als erster mahlen."
In der mittelniederdeutschen Originalfassung:
"Die ok irst to der molen kumt, die sal erst malen."
Marc Herold (Illustration)