Die Gewissensfrage

Hätte Manuel Neuer dem Schiedsrichter sagen müssen, dass der Schuss der Engländer im Tor war? Was ist wichtiger im Fußball, Fair Play oder Teamgeist?

»Angenommen, der deutsche Nationaltorwart Neuer hätte im WM-Spiel gegen England gesehen, dass der Ball im Tor war – wäre er moralisch verpflichtet gewesen, den Schiedsrichter auf dessen Fehlentscheidung aufmerksam zu machen? Oder konnte Neuer sich darauf berufen, dass ein solches Eingreifen gravierende Folgen für seine Mannschaftskameraden, ja sogar die ganze Nation gehabt hätte? Oder aber, dass eine Reklamation zu eigenen Ungunsten im Profifußball absolut unüblich ist und nicht einmal vom Gegner erwartet wird?« Hans H., München
Gesetzt den Fall, Herr Neuer hat gesehen, dass der Ball im Tor war, befand er sich tatsächlich in einem Konflikt. Mit der Besonderheit, dass nicht nur er selbst und seine Mitspieler, sondern sogar zwei Nationen beteiligt waren. Um diese Situation zu analysieren, möchte ich eine zugegebenermaßen kühne Theorie entwickeln: die Doppelspieltheorie.

Fußball ist bekanntlich ein Spiel, und das läuft nach Regeln ab – den geschriebenen und den ungeschriebenen. Zu den ungeschriebenen gehören bestimmte Fairplay-Üblichkeiten, aber auch das beiderseitige Einverständnis, inwieweit Regelverstöße sportlich akzeptiert werden. Dies alles gilt beim reinen Fußballspiel, wie man es im Amateur- oder Freizeitbereich kennt, sozusagen beim »Rasenspiel«. Hier scheint die idealisierte Grundregel des Sports ihren Raum zu haben: »Spiele fair!«

Daneben gibt es aber im Profibereich und bei Länderspielen ein zweites Spiel, das darum herum stattfindet. Im Profibereich, wie der heute startenden Bundesliga, geht es dabei um viel Geld, teilweise werden Vereine als Aktiengesellschaften an der Börse gehandelt, und die Spieler sind deren Kapital und Angestellte. Bei Nationalspielen, besonders bei internationalen Meisterschaften, habe ich den Eindruck, dass neben den Sport mindestens gleichberechtigt das Nationalgefühl tritt. Deshalb möchte ich das zweite Spiel dort »Nationalisierungsspiel« nennen: Man tut so, als wäre eine Nation etwas Besseres, weil elf berufsmäßige Fußballer aus diesem Land besser kicken als elf berufsmäßige Fußballer aus einem anderen Land. Um dieses Gefühl zu haben und nächtelang im Fahnentaumel über die Straßen zu ziehen, braucht es schon ein gerüttelt Maß an Illusion – eben eines der Charakteristika eines Spiels. Die Illusion dieses Spiels, dass es bei 90 Minuten Ballspiel kriegsähnlich um die Ehre einer geliebten Nation geht, erfordert dann auch eigene Regeln, und da liegen die des Krieges näher als die der Fairness: »Im Krieg und in der Liebe sind alle Tricks erlaubt.« Die Grundregel wäre dann hier wie bei den Profis: »Gewinne!«

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Die elf Nationalspieler sind nun Mitspieler in beiden Spielen und somit beiden Grundregeln verpflichtet. Aber wie? Aus moralischer Sicht würde ich begrüßen, wenn sie es schaffen, das »Spiele fair!« auch in das Nationalisierungsspiel zu transportieren, statt umgekehrt das »Gewinne!« in das eigentliche, in das Rasenspiel. Ich sehe aber durchaus die davon abweichende Wirklichkeit, vor der auch Herr Neuer stand.

Illustration: Marc Herold