Die Gewissensfrage

Ist es in Ordnung, bei Zeitungskästen mal zu viel, mal zu wenig Geld einzuwerfen, wenn unterm Strich dabei der richtige Betrag herauskommt?

»Wenn ich mich in der Münchner Innenstadt aus den Zeitungskästen, den stummen Verkäufern, bediene, werfe ich immer so viel Kleingeld hinein, wie mein Geldbeutel gerade hergibt. Mal 40 Cent, mal 25 Cent, oft aber auch einen Euro, jedenfalls eher selten exakt die 60 Cent, die die Zeitung kostet. Dabei leitet mich die – zugegeben grob überschlagene – Einschätzung, statistisch in der Summe nicht zu betrügen. Als ich neulich wieder einmal zu wenig gab, wurde ich von verdeckten Kontrolleuren erwischt. Meine Erklärungen interessierten sie natürlich wenig. Strafrechtlich mögen sie recht haben, aber bin ich auch moralisch im Unrecht?« Franziska P., München

Ist das nicht lediglich eine Frage der Sichtweise? Betrachtet man – wie der Kontrolleur – den einzelnen Kauf mit dem zu geringen Einwurf, haben Sie in diesem Moment nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch falsch gehandelt. Betrachtet man dagegen einen längeren Zeitraum, könnte man – wie auch Sie – sagen, Sie haben nichts Unrechtes getan, weil Sie ja in der Summe genug bezahlen. Im Gegenteil: Durch Ihren unkomplizierten Ausgleich bescheren Sie dem Zeitungshändler sogar mehr Umsatz, weil Sie auch dann kaufen, wenn Sie gerade zu wenig Kleingeld dabeihaben, und es das nächste Mal ausgleichen. Insofern wären Sie moralisch im Recht. Jedoch, obwohl eine umfassendere Betrachtung tendenziell besser ist, vernachlässigt sie hier einen wichtigen Aspekt.

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In Bob Dylans Song Absolutely Sweet Marie findet sich der Satz »But to live outside the law, you must be honest« – »Aber um außerhalb des Gesetzes zu leben, musst du ehrlich sein«. Wo ist da das Problem?, können Sie nun fragen. Nach dem, was Sie schreiben, meinen Sie ja, übers Jahr gesehen, ehrlich zu sein – vorausgesetzt, Sie runden nicht zu Ihren Gunsten. Dennoch weist Dylan auf den schwierigen Punkt hin, wenn man sein Zitat andersherum liest: Um richtig zu finden, dass jemand außerhalb des Gesetzes lebt – in diesem Fall also nicht immer korrekt einwirft, sondern den Betrag von Mal zu Mal selbst bestimmt –, muss sein Gegenüber wissen, dass er ehrlich ist. Das kann aber der Zeitungsverkäufer bzw. sein Kontrolleur nicht wissen. Er kennt Sie nicht und hört das Argument »gestern erst einen Euro eingeworfen« vermutlich mehrmals am Tag, ohne dass am Vortag die Münzbox übergelaufen wäre.

Was ich damit zeigen möchte, ist, dass die rechtliche Betrachtungsweise, die sich am Einzelfall orientiert, nicht nur eine rein formale Betrachtung darstellt, sondern auch einen inhaltlichen Kern hat. Durch das Einhalten der Form wird für beide Beteiligten Sicherheit geschaffen, die selbst wieder einen Wert darstellt. Das – und nicht ein Form- oder Gesetzesfetischismus – ist der Grund, warum ich einseitigen Aufrechnungen wie hier sehr skeptisch gegenüberstehe. Deshalb: Man kann Sie nicht auf eine Stufe stellen mit jemandem, der insgesamt zu wenig bezahlt, aber vollkommen richtig ist Ihr Verhalten auch nicht.

Die Gewissensfrage heute mit einer Songempfehlung:
Bob Dylan, "Absolutely Sweet Marie", erschienen am 16.5.1966 auf dem Doppelalbum "Blonde on Blonde" bei Columbia Records

Illustration: Marc Herold