Die Gewissensfrage

Darf man einem Freund, der seine Frau betrügt, ein Alibi liefern?

»Einer meiner besten Freunde ist seit zwölf Jahren verheiratet und hat drei Kinder. Seit zwei Monaten hat er nun eine Affäre und benutzt immer mich als Alibi für seine nächtlichen Exkursionen. Dabei fühle ich mich nicht wohl. Ich kann seiner Frau schon nicht mehr in die Augen schauen. Muss ich das als Freundschaftsdienst tolerieren und schweigen?« Hans L., Bottrop

Sie verwenden das Wort »tolerieren«. Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst definiert das folgendermaßen: »Der Begriff ›Toleranz‹ (…) bezeichnet allgemein das Dulden von Überzeugungen, Handlungen oder Praktiken, die einerseits negativ bewertet, andererseits aber nicht vollkommen abgelehnt bzw. eingeschränkt werden.« Was wollen Sie tolerieren? Das Verhalten Ihres Freundes, der eine Affäre hat? Da er sie vor seiner Frau verheimlicht, haben die beiden vermutlich keine offene Beziehung, er betrügt sie somit, und das muss man wohl negativ bewerten. Wenn Sie es so sehen, aber nicht vollkommen ablehnen, können Sie das tolerieren. Hier kann auch die Freundschaft eine Rolle spielen. Wobei ich dabei nicht von Freundschaftsdienst sprechen würde, sondern von größerem Verständnis aufgrund von Zuneigung. Ihnen scheint es aber darum zu gehen, dass er Sie als Alibi benutzt. Dann handelt es sich nicht mehr um eine Frage der Toleranz gegenüber dem Verhalten eines anderen, sondern um Verantwortung für eigenes Handeln. Wenn Sie wissen, dass Ihr Freund Sie als Alibi benutzt, und dazu schweigen, geht es zwar wieder um ein Dulden, dieses Mal aber dulden Sie, dass er Sie mit in seinen Plan einbezieht, Sie Teil des Ganzen werden. Sie sind nicht mehr Zuseher, der sich überlegen kann, ob er die Handlung seines Freundes toleriert, sondern Mitspieler, der sich überlegen muss, ob er einen Beitrag leisten will.

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Ich achte den Wert der Freundschaft sehr - aber auch die persönliche Integrität. Zum Freundschaftsdienst gehört sicherlich, dem Freund zuliebe über seinen Schatten zu springen und Dinge zu tun, die man nicht tun will. Nicht aber, sich zu verbiegen und Dinge zu tun, die man für falsch hält. Das sollte ein echter Freund aber auch nicht einfordern. Sie können ihn auffordern, sich ein anderes Alibi zu suchen.

Literatur:
“Der Begriff “Toleranz” – lat. tolerare: “dulden”, “zulassen”, “ertragen” – bezeichnet allgemein das Dulden von Überzeugungen, Handlungen oder Praktiken, die einerseits negativ bewertet, andererseits aber nicht vollkommen abgelehnt bzw. eingeschränkt werden.”
Rainer Forst, Toleranz, in: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal, Micha H. Werner (Hrsg.), Handbuch der Ethik, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, 2. Auflage, 2006, S. 529-534

“Toleranz (lat. Duldung) meint das Gelten- und Gewährenlassen (passive T.), besser noch: die Achtung, sogar freie Anerkennung (aktive und kreative T.) andersartiger Anschauungen und Handlungsweisen.”
Otfried Höffe, Toleranz, in: Otfried Höffe (Hrsg.) Lexikon der Ethik, Verlag C.H. Beck, München, 5. Auflage, 1997, S. 304-306

Rainer Forst, "Toleration", in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2012 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL.

Das Standardwerk zum Thema Toleranz ist: Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003

Heiner Hastedt, Toleranz, Grundwissen Philosophie, Reclam Verlag, Stuttgart 2012

Achim Lohmar, Was ist eigentlich Toleranz? Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 64 (2010), S. 8-32

Einen Überblick über Fragen der Toleranz gibt auch das Kapitel Solange man mich nicht stört... Wert und Grenzen der Toleranz, in: Rainer Erlinger, Nachdenken über Moral, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2012, S. 161-198

Für die Freundschaft als Modell für soziale Beziehungen siehe Anton Leist, »Ethik der Beziehungen. Versuche über eine postkantianische Moralphilosophie«, Akademie Verlag, Berlin 2005. Dort besonders das Kapitel 7 Moralische Beziehungssystem in der Gesellschaft. 1. Das Modell der Freundschaft, S. 140ff.

Lesenswert zum Thema Freundschaft: Klaus-Dieter Eichler (Hrsg.), Philosophie der Freundschaft, Reclam Verlag Leipzig 1999

Illustration: Serge Bloch