Wo er lebt? Jan Schubert kokettiert nicht, wenn er sagt, das sei schwierig zu beantworten. In einem Dorf am Amazonas in Ecuador arbeitet seine Freundin in einem Schreibwarenladen, die besucht er, wenn möglich; in Peru betreut er zwei Kakaokooperativen, eine im Norden, eine 2000 Kilometer weiter südlich; in Bolivien, Brasilien und Kolumbien sucht er im Dschungel die besten Kakaobäume und erklärt Bauern, wie die Holzkisten aussehen müssen, in denen sie ihre gesammelten Kakaobohnen fermentieren; in Amsterdam steht sein Schreibtisch; im September, Oktober ist er in Tittmoning, Landkreis Traunstein, in einer Einliegerwohnung bei den Eltern; bei Felchlin in der Schweiz schaut er nach der Produktion.
Jan Schubert ist Kakaojäger, offizielle Berufsbezeichnung: Lebensmitteltechniker, spezialisiert auf Back- und Süßwaren. Die Stellenbeschreibung seines Arbeitgebers lautet Conservation Cacao Leader. Wenn er irgendwo einen Vortrag hält, wird er auch gern als »Dr. Bohne« vorgestellt, denn Schubert gilt als der wissenschaftlich Versierteste von den vielleicht zehn hauptberuflichen Kakaojägern, die es weltweit gibt.
Schuberts Arbeitsalltag: Kakaobohnen lutschen, Schokolade probieren, ein bisschen Spanisch reden, viel Rumfliegen, und na schön, etwas Papierkram bei der Gründung von nachhaltigen Kooperativen oder der Beantragung eines Biozertifikats gehört auch dazu. Und manchmal muss Jan Schubert stundenlang durch den Dschungel laufen, um Indianerstämme aufzusuchen, zu schauen, ob sie genügend Kakaobäume haben mit altem Saatgut, das nicht anfällig für Krankheiten ist, und deren Bohnen außerdem gut schmecken. Zum Beispiel in Kolumbiens Norden an der Grenze zu Venezuela. Nach Bogotá flog er erstmals vor drei Jahren, nach dem Flug folgten zwanzig Stunden mit dem Bus nach Santa Marta am Rand der Sierra Nevada, schließlich zu Fuß in den Dschungel, auf dem Rücken seine Kakaojägerausrüstung: Gummistiefel, Hängematte, Moskitonetz, Mückenspray, Erste-Hilfe-Kasten, Machete.
Sechs Stunden brauchte er für den Fußmarsch. Jan Schubert hat einen spärlichen Bartwuchs, er ist 27 und fit, er geht in Bayern in die Berge, wann immer möglich. »Aber vierzig Grad Hitze und die Luftfeuchtigkeit machen einen fertig.« Danach die Verhandlungen mit den Arhuaco-Indianern. In den Achtzigerjahren waren sie aus den Wäldern der Sierra Nevada vertrieben worden, Kokabauern und Milizen der Farc hatten das Gebiet an sich gerissen, bis die Armee sie 2004 wiederum vertrieb. Vor zehn Jahren kehrten die Indianer zurück, arrangierten sich mit den letzten verbliebenen Kokabauern und pflegten die alten Kakaobaumbestände mit besonders guten Bohnen aus altem Saatgut, das noch rein und nicht hochgezüchtet wurde. Mit dem Medizinmann des Dorfes hat sich Schubert bei der ersten Reise unter einen Baum gesetzt – »ohne seine Zustimmung wären wir nie ins Geschäft gekommen.« Der Medizinmann horchte auf, als Schubert erwähnte, die Innenverpackung seiner Schokolade sei kompostierbar und verrotte restlos. »Wenn das wahr ist, habt ihr im Westen mal was begriffen«, sagte der Medizinmann und vergrub die Verpackung unter dem Baum: »In drei Monaten schauen wir nach. Wenn sie wirklich verschwunden ist, rufen wir dich an, und du bekommst unseren Kakao.«
So kam es. Mit Eseln und Maultieren transportieren die Indianer ihre Bohnen seitdem zur Sammelstelle am Dschungelrand. In diesem Sommer ist die kolumbianische Schokolade unter dem Namen »Arhuaco Businchari« auf den Markt gekommen. Es ist eine dunkle Schokolade mit einem Kakaoanteil von 82 Prozent und Noten von Gewürzen und geröstetem Sesam. Preis: 6,50 Euro pro Tafel.
Wildwachsender Kakao aus Mischkulturen ist mühsamer zu sammeln als der aus Plantagen. Die Kakaobäume stehen verteilt unter größeren Bäumen, das schützt sie vor der Sonne und erzeugt weniger Stress, weniger Brandflecken auf den Blättern – und so steigt die Qualität der Bohnen. Herbizide werden bei wildwachsenden Kakaobäumen ohnehin nicht eingesetzt. Alle Anbaugebiete von Original Beans, so heißt Schuberts Arbeitgeber, haben ein BioFtzertifikat, nur bei den Arhuacos steht das noch aus. Für Bauern bedeutet das einen Riesenaufwand, sie brauchen Jan Schubert für die Bürokratie und seine Kontakte – und stehen dann sowieso erst mal zwei Jahre unter behördlicher Beobachtung, bevor sie sich als Bio-Erzeuger bezeichnen dürfen.
Pro verkaufter Schokolade garantiert Original Beans die Neupflanzung eines Baumes oder den Schutz eines alten. Das niederländische Unternehmen bietet allen Bauern und Kakaosammlern einen langfristigen Abnahmepreis für große Mengen und zahlt derzeit mehr als das Doppelte des aktuellen Weltmarktpreises, der um 1,90 Euro pro Kilo liegt. Die Schokoladen von Jan Schuberts Firma sind teuer, aber gut und erfolgreich. Die Kuvertüre zum Backen und Kochen gilt bei vielen Sterneköchen als die beste auf dem Markt. Die Hälfte der Produktion wird in Deutschland, die andere Hälfte in Japan, den USA, Kanada, Hongkong oder der EU verkauft. Der Ladenpreis liegt zwischen vier und 6,50 Euro pro Tafel. 2018 will das Unternehmen in die schwarzen Zahlen kommen.
Schuberts Karriere als Kakaojäger begann in Tittmoning, in der elterlichen Abstellkammer, die kein Fenster, aber Fliesen und einen Wasseranschluss hatte. Im Italienurlaub hatte Schubert, damals 16 Jahre alt, seine erste Schokolade getrunken und wollte selbst mal eine herstellen. »Ich hatte keine Ahnung, wie man das anstellen könnte, aber ich probierte solange rum, bis was ganz Ordentliches herauskam.« Die Trinkschokolade war gut genug, um die Eltern eines Freundes zu beeindrucken, die sie in ihrem Traunreuter Delikatessladen verkauften.
Schon als Kind hatte Schubert ein Faible für hochwertige Schokolade. Dass er auch ein ungewöhnliches Talent für den Beruf mitbringt, erfuhr er erst während seines Studiums: Jan Schubert besitzt einen herausragenden Geschmackssinn. Den braucht er, um am Geschmack der Bohnen gute Bäume zu erkennen, um den Kakao in allen Stadien zu beurteilen, um die Qualität der Ware zu prüfen, um die Rezepturen mit Kakaobutter abzuschmecken. Schmecken kann man lernen, aber ein Großteil der Fähigkeit ist angeboren. Sogenannte Supertaster gelten für bestimmte Geschmacksrichtungen als überdurchschnittlich sensibel, von Geburt an. Schubert ist so ein Supertaster – und das gleich für alle fünf Geschmacksarten: salzig, süß, bitter, sauer, umami. Unterwegs in Südamerika isst Schubert nicht mehr als eine Tafel Schokolade pro Woche. Gute Schokolade ist in Peru schwer zu bekommen und kostet dort mit etwa acht Euro so viel wie drei Mittagessen. In Europa, wenn Schubert als Juror unterwegs ist oder am Schreibtisch sitzt, isst er leicht ein Kilo pro Woche.
Seinem Chef begegnete Schubert 2009 auf der Schokoladenmesse in Tübingen, mit 300 000 Besuchern der größten weltweit: Philipp Kauffmann, heute fünfzig, aus München stammend, damals gerade bei der UNO ausgeschieden, wo er sich um die Finanzierung von Umweltprojekten gekümmert hatte – großteils ging es um Aufforstung von Wäldern. Kauffmann hatte 2006 seine eigene Schokoladenfirma aufgebaut: Original Beans, nachhaltig, fair, bio, kein Zusatz von Vanille oder Fremdfetten. Vier Schokoladen aus dem Kongo, Peru, Bolivien und Ecuador hatte die Firma schon auf dem Markt, als Jan Schubert sich auf der Messe nach einem Praktikum nach dem Abitur umsah. Kauffmann gab es ihm, Schubert blieb dem Unternehmen treu, studierte nach einem sozialen Jahr in Südamerika Lebensmitteltechnologie mit Schwerpunkt Süßwaren in Lemgo und schrieb eine Bachelorarbeit darüber, wie man die Herkunft von Kakaobohnen mittels Magnetresonanzspektroskopie zweifelsfrei – und viel billiger als mit einem Gentest – klären kann. Das ist wichtig auf einem Markt, in dem sich Betrug mit falschen Herkunftsangaben sehr lohnt, ähnlich wie beim Olivenöl. Venezuela etwa exportiert nachweislich viel mehr Kakao, als dort wächst. Dazu muss man wissen, dass sehr gute venezuelanische Bohnen von der Halbinsel Chuao auf dem Weltmarkt 12 000 Euro pro Tonne kosten – günstige Bohnen sind schon für 1900 Euro pro Tonne zu haben.
Seit sechs Jahren fliegt Jan Schubert inzwischen für Kauffmann um die Welt. Original Beans hat nun zwölf Schokoladen auf dem Markt: aus Indonesien, aus Tansania, zwei aus dem Ost-Kongo nahe dem Virunga-Nationalpark (wo auch Vanille angebaut wird, die inzwischen teurer als Silber ist), aus Bolivien, aus Ecuador, aus Kolumbien, aus der Dominikanischen Republik, ferner eine Mischung aus verschiedenen Bohnen. Drei Schokoladen sind aus Peru, darunter eine Besonderheit im Programm: eine der fettesten Schokoladen der Welt.
Jan Schubert hatte von Anfang an den Ehrgeiz, eine Schokolade ohne Zuckerzusatz ins Sortiment zu bekommen. Lange war er auf der Suche nach einer dafür geeigneten Bohne, die von Natur aus nicht zu bitter schmeckt, damit die Schokolade ohne Zucker auskommt. In Cusco nahe Machu Picchu, im Heiligen Tal, wurde er fündig. Wilde Kakaobäume sind schlank und wachsen in der Regel nicht sonderlich hoch. Aber in Cusco sind die Stämme so dick, dass Schubert viele nicht umfassen konnte.
Schokolade aus dem Supermarkt enthält etwa dreißig Prozent Kakao. Je höher der Kakaoanteil, desto höher auch der Fettanteil. Die dunkle »Cusco Chuncho« hat einen Kakaoanteil von hundert Prozent, keine Fremdfette oder Kakaobutter als Zusatz, keinen Zucker – und einen Fettanteil von 55 Prozent.
Schokolade ganz ohne Zuckerzusatz galt lange als exotisch und schwer verkäuflich. Sie schmeckt sehr kräftig, auch bitter, zumindest für den, der nur süße Schokolade gewohnt ist. Man nimmt Noten von Heu und Trockenblumen wahr, dazu eine – laut Schubert – angenehme Säure. Der Kakaojäger hat auch in diesem Fall den richtigen Spürsinn bewiesen: In den drei Jahren, die die »Cusco Chuncho« bis zur Markteinführung brauchte, ist die Nachfrage nach fetten Schokoladen ohne Zucker in Bioläden und Restaurants enorm gestiegen.
Fotos: Daniel Delang, Jan-Marcel Schubert