Meine Kindheit schmeckt nach Käsebrötchen. Mit ihnen verbinde ich Schultage, Werktage. Aber die guten Tage, die besonderen Tage – an denen gab es geschmolzenen Käse. Auf Pizza, auf Nudeln, auf Toast Hawaii. Ich bin nicht in der Schweiz mit der Nase im Fonduetopf groß geworden. Es ist auch nicht so, dass mein Großvater selbst Käse gemacht hätte. Unser Käse kam aus der Käsetheke und oft aus der Packung. Ich mochte ihn auch gekühlt, das tue ich immer noch, aber ich liebe ihn nur geschmolzen. Wenn sich die Fäden bis auf Armlänge ziehen und die warme, weiche Masse sich an meinen Gaumen schmiegt. Es gibt darüber so gut wie keine repräsentativen Studien, aber wenn ich mich unter Verwandten und Freunden umschaue, merke ich, dass ich mit meiner Begeisterung nicht allein bin. Ich frage mich nur, warum. Warum schmeckt geschmolzener Käse so viel besser, sündiger als kalter?
Ganz grundsätzlich, erklärt der Milchwissenschaftler Jörg Hinrichs von der Universität Hohenheim, ist es so: Käse ist ein komplexes, amorphes System aus Fett und Proteinen. Bei Raumtemperatur gibt das Milchprotein die feste Struktur des Käses vor. Wird der Käse aber erhitzt, verflüssigt sich das Milchfett, die Wärme schwächt die Bindungen der Proteinstruktur, ab etwa sechzig Grad beginnt der Käse zu fließen. Und weil Fett im erhitzten Zustand besonders gut Aromen löst, schmeckt geschmolzener Käse intensiver. Nur, warum er manchen Menschen besser schmeckt, das ist kompliziert.
Geschmack entsteht multisensorisch, durch Sehen, Essen, Tasten, Riechen. Beim Essen treffen die zuvor gesehenen und für gut befundenen Lebensmittel zunächst auf die Geschmacksrezeptoren der Zunge. Mit ihr schmecken wir süß, bitter, sauer, salzig und umami. Umami kommt aus dem Japanischen, heißt so viel wie herzhaft-wohlschmeckend und ist evolutionär mit der Aufnahme wertvoller Proteine verbunden. Fleisch und eben auch Käse wie Parmesan werden als umami beschrieben. Dazu kommt, dass wir mit der Zunge nicht nur schmecken, sondern auch tasten. Ähnlich wie die Fingerkuppe ist die Zunge nervlich sehr sensibel. Sie funktioniert wie eine Lupe. Was wir mit ihr betasten, wirkt in unserem Mund zehnmal so groß. »Wie die Hitze verändert das Fadenziehen des Käses im Mund auch den Geschmack, weil das spielerische Moment als wohltuend empfunden wird«, sagt die Ökotrophologin Christine Brombach von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Wie beim Kaugummikauen.
Doch fürs Schmecken noch wichtiger als die Zunge ist laut Brombach die Nase. Die Nase unterteilt die Aromen, die über den Rachenraum zu ihr gelangen, nicht nur in fünf, sondern in 350 Geschmacksnoten. All diese Sinneseindrücke verbindet das Gehirn zu einem Geschmackserlebnis. Und jedes Geschmackserlebnis hat seine Wurzel im persönlichen Erleben.
Bei uns zu Hause war geschmolzener Käse keine Normalität, sondern eher Belohnung und Beruhigung. Und genau dieses Gefühl stellt sich ein, sobald ich ihn esse
Denn unsere Geschmacksbildung beginnt, lange bevor wir selbst mit dem Essen anfangen. Unser Geschmack ist zum Teil genetisch, wie die Ablehnung von Koriander. Er ist evolutionär, wie die Vorsicht gegenüber Bitterstoffen, da auch Giftiges oft bitter schmeckt. Er ist vom Essverhalten der Mutter geprägt: Es wurde nachgewiesen, dass Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft viel Anis oder Kümmel aßen, diese Lebensmittel auch später mochten. Und die Vorliebe der meisten Menschen für Süßes und Fettes lässt sich auch
auf die Muttermilch zurückführen, die hauptsächlich aus Zucker und Fett besteht und als Energielieferant gilt. Aber ein Großteil unseres Geschmacks entsteht durch »mere exposure«, womit in der Psychologie beschrieben wird, dass wir etwas allein durch die wiederholte Wahrnehmung als positiv empfinden. Wir essen nicht, was uns schmeckt, sondern uns schmeckt, was wir essen – und zwar durchschnittlich nach dem sechzehnten Mal.
Der Rest ist privat. Und da beginnen die großen Unterschiede. Weil Geschmäcker nicht einfach so verschieden sind. Sie sind verschieden, weil die Menschen verschieden sind. Geschmäcker sind biografisch. Der Satz »Du bist, was du isst« bekommt so eine neue Bedeutung. Ich hatte ihn bisher immer nach vorne gedacht, als Aufforderung zu einer »besseren« Ernährung mit weniger Zucker, Fett, Fleisch und mehr Gemüse. Denkt man den Satz in Richtung Vergangenheit, »Du bist, was du isst, weil du gegessen hast, was auf den Tisch kam«, wird erst klar, was für eine persönliche Angelegenheit das Schmecken ist.
Denke ich an geschmolzenen Käse, denke ich an den Edamer auf der Pizza, die wir beim Lieferdienst im Dorf bestellen durften, wenn unsere Eltern ausgegangen waren, und die wir mit den Händen aßen, auf dem Sofa meiner Freundin Tini, bei einer Folge Dawson’s Creek. An einen Teller Nudeln, in der Mikrowelle mit Butterkäse überbacken, Samstagmittag, bevor meine Brüder und ich zum Punktspiel mussten und zwischen Gartenarbeit und Wocheneinkauf keine Zeit für etwas Aufwendiges blieb. An das erste Grilled Cheese Sandwich meines Lebens, das mir meine Gastschwester in den USA gegen mein Heimweh servierte. An das erste getoastete Sandwich in meiner ersten eigenen Wohnung, an dem Abend bevor die Uni losging und mit ihr mein neues Leben. Den Sandwichtoaster hatte mir mein Vater per Post geschickt, zusammen mit einem Fernseher. Er meinte, ohne diese beiden Geräte könne keine Studentin überleben.
Für die Ökotrophologin Brombach hat meine Liebe zu geschmolzenem Käse vor allem mit diesen Momenten voller Harmonie zu tun. Diese Erinnerungen seien wahrscheinlich als Erregungsmuster in meinem limbischen System gespeichert und würden wieder aufgerufen, sobald ich geschmolzenen Käse esse. Bei uns zu Hause war geschmolzener Käse keine Normalität, sondern eher Belohnung und Beruhigung. Und genau dieses Gefühl stellt sich ein, sobald ich ihn esse: Alles wird gut.
Der Sandwichtoaster begleitet mich immer noch. Er steht ganz hinten im Schrank, aber nach einer langen Nacht ziehe ich ihn manchmal hervor, pinsle ihn mit Butter ein und presse zwei Scheiben Toast mit altem Gouda zwischen seine heißen Eisen. Schon das Warten macht mir Freude. Der Geruch streichelt meine Seele. Ich hypnotisiere die rote Lampe: Spring auf Grün, spring auf Grün! Sie springt auf Grün, ich verbrenne mir erst die Finger und dann den Gaumen, aber es stimmt, alles ist gut.