Wissenschaftler haben schon die verschiedensten Thesen aufgestellt, warum Mädchen Pferde und das Reiten lieben. Weil sie sich gern um Lebewesen kümmern, um für ihre Mutterrolle zu proben, zum Beispiel; das Pferd sei dabei so etwas wie ein Übergangsobjekt zwischen Eltern und Partner sowie zwischen Puppe und Kind. Eine andere Mutmaßung lautet, Mädchen schulten ihr Durchsetzungsvermögen, wenn sie ein Lebewesen, das viel größer und stärker ist als sie, ohne Gewalteinwirkung in der Hand hätten – so ähnlich, wie das dann später mit den Männern abläuft.
Gerade in einem bestimmten Alter reiten Mädchen gern. Der Grund: Etwa mit sieben Jahren verlassen Kinder ihre Fantasie-Spiele-Welt und wollen echte Dinge tun, Radfahren, Reiten, Abenteuer erleben, bei denen sie sich messen können und lernen, mit Gefahren klarzukommen. Mit zwölf, dreizehn, vierzehn hören die Mädchen meistens wieder auf, weil die Beziehung zum Pferd von zwischenmenschlichen Beziehungen ersetzt wird.
Eine große Gruppe von Mädchen im Alter zwischen sieben und dreizehn Jahren, weitgehend ohne Aufsicht: Jeder, der mal geritten ist, weiß, was das bedeutet. Es ist kein Klischee, dass Mädchen auf Reiterhöfen ziemlich, nun ja, stutenbissig sein können.
Da drängeln sich Mädchen beim Verteilen der Pferde lautstark vor, um das beste zu erwischen. Die älteren zerren als Erste ganz schnell ihr Pferd zum Satteln in die Stallgasse, sodass die anderen ihre Pferde in der Box fertig machen müssen. Sie geben den Hufkratzer nicht weiter, sie lassen beim Ausmisten ein paar Pferdeäpfel in offene Putzkoffer fallen, und sie verleihen nichts, erst recht nicht den guten Springsattel oder die weiße Turnierhose. Sie tuscheln und lästern über Mädchen, die sehr schlecht (oder, schlimmer: sehr gut) reiten, über deren Pferde, die gerade zu dick oder zu dünn sind, und über das rosa Trensenstirnband zur rosa Satteldecke.
Wer nicht selbst geritten ist, hat zumindest schon mal einen Pferdefilm gesehen oder ein Pferdebuch gelesen. Im Kinohit Ostwind gönnt das eifersüchtige Mädchen dem anderen den Sieg in einem Springturnier nicht und schmiert daher die Fesseln des Pferdes mit einer Creme ein, die brennt wie die Hölle. Daraufhin verursacht das Pferd einen Unfall. Diese erfundenen Reitgeschichten sind realistischer, als Außenstehende glauben. Selbst Conni, die Göre, die sonst bloß alle Eltern nervt, wird im Buch Conni auf dem Reiterhof von fiesen Mädchen mit einem heimlich vertauschten (und wilden) Pferd auf den Reitplatz geschickt. Und ausgelacht.
Mobben, lästern, intrigieren, petzen, hetzen, sabotieren, selbst auf die Gefahr hin, dass ernsthaft was passiert: Wie kann das sein? Mädchen werden doch immer noch so erzogen, dass sie nicht anstreben sollen, besser zu sein als andere Mädchen. Jungs sollen kämpfen und sich durchsetzen, Mädchen still und unauffällig sein und Sozialkompetenz zeigen.
Doch auf dem Reiterhof wird das süßeste Mädchen zum Tier. Und das liegt gerade daran, dass im Reitstall eben nicht alles so süß zugeht. Die Mädchen entdecken dort, so gut wie unbehelligt von erwachsener Normenkontrolle, einen Gegenentwurf zu ihrer strengen Lebenswelt, in der sie auf Sauberkeit, hübsches Aussehen und Freundlichkeit getrimmt werden. Es ist eine sich selbst reproduzierende Freude am Ellenbogeneinsatz. Die Frankfurter Gender-Forscherin Lotte Rose sagt es so: »Möglicherweise liegt gerade in dieser Doppelseitigkeit der besondere Reiz des Reitens. Das Mädchen darf hier nicht nur Mädchen sein, sondern auch Junge: nicht nur liebend, sondern auch hassend, nicht nur defensiv, sondern auch aggressiv, nicht nur zärtlich, sondern auch gewalttätig, nicht nur sanftmütig, sondern auch befehlend, nicht nur bescheiden, sondern auch beherrschend. Es findet als Reiterin einen Ort und ein Objekt der Geschlechtsüberschreitung.«
Auf jeden Fall lernen junge Reiterinnen eine der elementaren Lektionen unserer Existenz: Das Leben ist kein Ponyhof.
Illustration: Dilraj Mann