Geste von gestern

Alle Menschen winken. Politiker anders als Kinder, Deutsche anders als Italiener. Nur – warum winken sie alle plötzlich viel weniger als früher?

Auf geht’s, jetzt wird geübt, Kate Middleton wurde auch nichts geschenkt: Unterarm abkippen und schräg nach oben heben. Die Handfläche zeigt nach vorn, die Hand selbst ist wieder ein kleines Stückchen zurückgekippt gen Körper, als bildeten Sie ein unvollständiges Parallelogramm. Achtung, ja nicht die Finger nach vorn hängen lassen, das sähe ordinär aus! Nun mit einer sehr kleinen Bewegung winken: drei, vier Zentimeter nach links, drei, vier Zentimeter nach rechts. Dabei steif sitzen, abwechselnd ein wenig nach rechts, ein wenig nach links schauen, aber bitte nur die Schultern leicht zur Seite drehen, niemals aus der Hüfte heraus den ganzen Oberkörper einsetzen! Und niemals Gefühle zeigen: das Temperament zügeln, jedwede Begeisterung verbergen, aber auch Müdigkeit oder Erschöpfung unterdrücken.

Wie, Ihnen fällt schon der Arm ab? Sie müssen mal? Nichts da, weiterwinken! Wer eines Tages wie Kate Middleton in einer Kutsche an der Seite eines echten Prinzen inmitten jubelnder Massen durch London fahren will, der muss durchhalten und sehr, sehr lange royal winken können. Denn diese kleine, steife Demonstration totaler Körperkontrolle, gepaart mit einem feinen, distanzierten, huldvollen Lächeln – sie ist Teil der königlichen Etikette und will beherrscht sein, immer wieder, aus Vierspännern heraus, aus Bentleys, aber auch beim Betreten eines roten Teppichs oder von Schlossbalkonen herab.

Was, Sie wollen gar nicht Queen oder König werden? Sie winken lieber einfach so hin und her, ganz ungeübt, auf und ab, bei der Begrüßung euphorisch, beim Abschied auch mal müde und traurig, aber immer mit dem Herzen in der Hand? Nun, das royale, ritualisierte, konventionelle Winken ist ja auch Stars, Politikern, Päpsten und Adeligen vorbehalten. Am Winken zeigt sich, ob einer ganz oben auf der Karriereleiter angekommen ist: Je höher der Status oder die Klasse, desto kontrollierter, desto weniger spontan wird gewinkt. Woraus wir lernen: Winken und winken sind zweierlei. Als nämlich Kate und William sich am 29. April 2011 bei strahlendem Sonnenschein nach der Trauung hinaus zu ihrem Volk begaben, da hatte das Volk nichts Besseres zu tun, als auch zu winken. Gott, was wurde da gewedelt, gehüpft und geschwenkt, mit Taschentüchern und Union Jacks, auch Kameras und Kinder wurden hin- und hergeworfen in der Luft, und wer leere Hände hatte, der winkte voller Emphase so stark, dass er mitunter mit dem Ellenbogen die Nase seines Nebenmanns erwischte.

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Royal war das nicht, aber sehr emotional. Womit der wesentliche Grund schon benannt wäre, warum Menschen immer und überall auf der Welt so gern winken – von Schiffen und aus Zügen, auf Bahnsteigen und von Autobahnbrücken, dem Fremden im Haus gegenüber, dem Freund auf der Straße und dem Nachbarn im Garten, dem Geliebten im Zimmer nebenan und dem Kind an der Tür zum Kindergarten, zum Abschied oder zur Begrüßung, manchmal mit einer Träne im Auge, immer aber voller Leben: weil diese kleine, universelle Geste ohne Worte viel Nähe in der Distanz ausdrücken kann, Nähe auch zu Fremden. Dabei wird aus zweien, aus vielen eins; der Winkende und der Bewinkte fühlen sich gesehen, erkannt und gemocht. Manchmal reicht das schon, um glücklich zu sein.

»Wir Menschen sind zutiefst kommunikative und kooperative Wesen«, sagt die Psycholinguistin Pamela Perniss, die am Max-Planck-Institut in Nijmegen über Körper- und Gebärdensprache forscht, »und in der Kommunikation ist auch das Winken verwurzelt.« Anthropologen, Ethnologen, Psychologen und Verhaltensforscher befassen sich daher mit diesem Teil der »bewussten, nonverbalen Kommunikation«. Und stellen leider fest, was auch uns der graue Alltag lehrt: Die Kunst des spontanen, ehrlichen Winkens stirbt aus, sie kommt aus der Mode. Wo früher mit dem Taschentuch am Bahnsteig gewinkt wurde, bis der Zug, in dem ein geliebter Mensch saß, nur noch ein Punkt am Horizont war, da versperren heute verspiegelte, verschlossene ICE-Fensterscheiben die Chance auf den letzten Gruß, der Abschied und zugleich Einladung zur Wiederkehr ist. Am Flughafen schieben sich blickdichte Scheiben ins Gesichtsfeld, wo früher eine einfache Schranke die Begrüßung zu einer langen Zeremonie machte, die jenseits der Glasfront an der Passkontrolle begann (»Schau, da ist die Oma, jetzt kannst du winken«), am Gepäckband weiterging (»Nun wink doch mal, gleich hat die Oma ihren Koffer«) und erst nach der Zollkontrolle endete (»Huhu, hier drüben stehen wir«). Aus und vorbei, Türen gehen im Sekundentakt auf und zu, und eh man sichs versieht, ist der Ankömmling schon an einem vorbeigelaufen. Zu spät gewinkt.

Die Mauer, über die dereinst Deutsche Deutschen winkten, ist abgerissen. Und im Fernsehen winkt auch keiner mehr, »Hallo, Mama« ist heute peinlich. Hänschen Rosenthal hat das fernsehunerfahrene Volk nämlich schon vor Jahrzehnten in seiner legendären Dalli Dalli-Sendung zum Verzicht erzogen, als ein bebrillter, recht fader Gast urplötzlich das Gespräch mit dem Moderator abbrach, in die Kamera schaute und ein wenig verklemmt, mit schüchterner Gestik zu winken begann. »Nicht winken, wir sind doch in der Großstadt!« rief Rosenthal empört, und sein Gast schämte sich sehr. Die Hamburger Kulturanthropologin Sabine Kienitz glaubt sogar, dass sich das Winken als Symbol für Abschied und Wiederkehr schon deshalb zunehmend erledigt, weil ja niemand mehr so richtig fortgeht: »Wo Skype, Facebook und E-Mail das Gefühl vermitteln, man sei überall erreichbar, geht auch das Gefühl für ein Leben auf Distanz verloren.« Auch das Fernweh schwinde, sagt Kienitz ein wenig melancholisch: Wo früher Kinder Fremde von Autobahnbrücken grüßten, weil sie daheimbleiben mussten, während die Insassen der rasenden Blechkugeln unter ihnen in die weite Welt reisten, da »hat man heute schon eher Angst, dass jemand Steine von der Brücke wirft«.

Und weil das alles so traurig ist, sei hier anbei eine kleine Schule des Winkens präsentiert, bevor es zu spät ist.

Der Ursprung: Es gibt Handzeichen, die nahezu alle Menschen benutzen und verstehen – es sind Gesten, die so eindeutig und funktionell seien, dass ihre Bedeutung im wahrsten Sinne »auf der Hand liegt«. Wobei es hier besser hieße »nicht auf der Hand liegt«, denn Sozialanthropologen wissen, dass bei allen Völkern der Welt gilt: Wer winkt und dabei seine leeren Handflächen herzeigt, der beweist, dass er in friedlicher Absicht und ohne Waffen kommt.

Die Grammatik: Ich winke, ich winkte, ich habe gewinkt, heißt es; ich habe gewunken ist okay, aber Umgangssprache.

Die Gender-Perspektive: Frauen winken meist anders als Männer; sie klappen eher die Finger nach vorn ein, während Männer mit der ganzen Hand wedeln. Frauen, glaubt außerdem die Anthropologin Sabine Kienitz, winken euphorischer als Männer – weil sie sich eher trauen, ihre Gefühle zu zeigen.

Der Papst winkt mit den Handrücken nach außen, als wollte er sagen: »Schau mich nicht an, und komm mir nicht zu nah.«

Der Massentaumel: Menschen winken gern in der Gruppe, das verbindet in der Freude doppelt. Wer jemals nach einer gewonnenen Meisterschaft auf einem deutschen Marktplatz stand und seiner vom Rathausbalkon winkenden Mannschaft zujubelte, der weiß, wie dankbar Menschenmengen für demonstrative Gemeinschaftsgesten sein können. Der Göttinger Ethnologe Christian Riemenschneider sagt aber auch: »Kollektive Abschiede werden durch Winken erträglicher; man winkt und weint zusammen leichter.«

Das Heranholen: In Nord- und Mitteleuropa wird in der Regel jemand herbeigeholt, indem man die Handfläche zum Gegenüber dreht, die Finger zeigen nach oben. In einigen südeuropäischen Ländern indes, aber auch in Japan, winkt man mit herabhängenden Fingern, indem man den Arm ausstreckt, die Handfläche abkippt und dann die Finger zum Körper hin bewegt; von ahnungslosen Touristen wird das fälschlicherweise oft als »Geh weg« interpretiert, nicht als »Komm her«.

Das Signalisieren: In zahlreichen afrikanischen Ländern trampt man nicht, indem man den Daumen nach oben reckt, sondern indem man den Fahrern winkt. Könnte von der Jagd nach New Yorker Taxis abgeschaut sein.

Der anonyme Gruß: Wer einem Menschen, von dem er wenig weiß und den er mutmaßlich nie wiedersehen wird, zuwinkt, anstatt sich zu nähern und zu sprechen, der sagt damit: »Ich will keinen dauerhaften Kontakt, sprich mich nicht an.« Der Ethnologe Christian Antweiler von der Universität Bonn betrachtet das als Symbol urbanen Lebens, Soziologen nennen es civil inattention.

Der Relings-Reigen: Wenn ein Kreuzfahrtschiff auf große Reise geht, dann wird gewinkt, was das Zeug hält – von Deck gen Land, vom Ufer gen Schiff. Volkskundlerin Sabine Kinietz hat dafür eine großartige Erklärung: Man grüßt mit den Menschen in der Ferne auch das Land, die Stadt, die Heimat – und umgekehrt die sehnsüchtig herbeigeträumte Fremde. Die Menschen werden also gegrüßt, weil sie Orte repräsentieren.

Das weiße Taschentuch: Das helle Tuch in der erhobenen, winkenden Hand verlängert den Arm, macht ihn sichtbarer, das Flattern erregt die Aufmerksamkeit des Auges leichter. Heute, in Zeiten schnöder Tempo-Taschentücher, ist auch das eher selten zu sehen.

Mensch und Tier: Menschen winken, Tiere nicht. Das hat der berühmte Verhaltensforscher Michael Tomasello vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie herausgefunden. Er forscht über die Ursprünge menschlicher Kommunikation und geht davon aus, dass Menschen das Konzept des Wir verstehen, Primaten aber nicht. »Ein Beispiel: Wer den anderen verlässt«, so Tomasello, »der verabschiedet sich mit einer Geste, einem Wort, weil er sich von der Gemeinschaft, sozusagen von dem pluralen Subjekt abwendet. Ein solches Verständnis haben Affen nicht, es gibt daher die Funktion des Abschieds nicht – und keine Abschiedsgesten.«

Das politische Winken: Jeder Mensch lernt im Laufe seines Lebens, Gesten bewusst einzusetzen. Wo das Kleinkind nur mit den Fingern winkt, weil ihm Körperkoordination und Worte fehlen, da wächst mit Status und Alter die Ritualisierung, die Stilisierung der Bewegung. »Gestische Rhetorikschule« nennt das die Sprachwissenschaftlerin Pamela Perniss. Man denke nur an den Papst, der winkt gern mit den Handrücken nach außen, seitlich zum Gesicht, als wollte er sagen: »Schau mich nicht an, und komm mir nicht zu nah.« Oder Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag: Sie steht gern frontal zum Publikum, winkt mit einer, dann mit beiden Händen, die Unterarme seitlich vom Körper abgewinkelt und die Hände knapp über dem Kopf, doch ihre Bewegung wirkt eingefroren, mechanisch, als ziehe die Parteitagsregie auch beim volksnahen Dauerwinken zu rhythmischem Klatschen die politischen Strippen. Ihre Geste sagt: »Ich bin da, aber auch schon wieder weg – und nein, Sie dürfen nicht auf mich zukommen.«

Zwischenmenschliches: Schon Kleinkinder werden dazu angehalten, winke, winke zu machen, was den Kontakt zu Eltern und Fremden gleichermaßen herstellt und das Kind in den Mittelpunkt rückt. Ganze Blogs im Internet beschäftigen sich mit der Frage, warum die Marie, acht Monate, noch nicht winke, winke machen kann, wie eine besorgte Mutter berichtet, während eine andere Mama tröstet, ihre Clara habe auch erst mit anderthalb winken können. Hunde lernen das Winken mit der Pfote, weil es so niedlich, wenngleich unhundisch ist. Sind die Babys größer und haben gelernt, mit mehr zu winken als fünf Fingern, sitzen ihre Eltern auf der Bank am Spielplatz und winken ihren Kindern regelmäßig zu. »Ich bin hier, ich sehe dich, und alles ist gut«, soll das sagen, aber auch: »Zu mehr als zum Winken habe ich jetzt keine Lust.« In der Pubertät dann wird wenig gewinkt, da jede expressive Körperbewegung als uncool gelten muss und winkende Eltern an Zügen oder Bussen, etwa vor der Abreise zur Klassenfahrt, extrem peinlich sind. Da stehen dann Mütter und Väter, schwenken, bis der Autobus den Schulparkplatz verlassen hat, höchst altmodisch ein sauberes Taschentuch und weinen vielleicht ein wenig, weil die Kinder unbeschützt in die weite Welt ziehen – während ebendiese Kinder verdammt froh sind, dass moderne Busse verspiegelte Scheiben haben, damit Mama und Papa nicht hineinschauen können. Kindisch, dieses Gewinke, denken sie.

Mediales: Berühmteste TV-Winker sind vielleicht die Teletubbies; sie nerven beständig mit ihrem Winke-Winke, wenn auch jedes auf seine Weise: Laalaa wedelt beidhändig zum Abschied, Po reichen kleine Bewegungen, Dipsy streckt nur einen Arm in die Luft, und Twinky-Winky schleudert die Arme gen Himmel. Als originelleste Winker allerdings dürfen wohl die Pinguine im Film Madagascar gelten: Während sie ihren Ausbruch aus dem Zoo planen und immer ein, zwei Tiere einen Gang buddeln, steht vor ihnen, als Sichtschutz, der Rest der Truppe und wedelt mit den Flossen: »Lächeln und winken, Männer, lächeln und winken«, lautet die Anweisung vom Chef, und sie wird, Befehl ist Befehl, pinguinisch-stoisch befolgt.

Bezahltes Winken: In Japan, berichten Reisende, gibt es in teuren Hotels offenbar einen ganz besonderen Service. Während der Gast davonfährt, winkt ihm ein Angestellter des Hotels hinterher, herzlich, euphorisch und lange, manchmal noch Minuten nachdem der Wagen mit dem Hotelgast längst um die Ecke gebogen ist. Schön-schrecklich. Aber ein toller Service.

Sie wollen jetzt sofort auf die Straße gehen und Wildfremden winken? Oder Ihrer Frau, die gerade zur Arbeit geht? Nur zu, jedes Winken, das von Herzen kommt, ist eine gute Tat und bringt Freude in die Welt. Wir sagen derweil winke, winke, schön war’s mit Ihnen. Auf bald, hoffentlich!

Fotos: graphic-to-go/photocase.com, Getty, dapd/picture alliance (2), dpa (3)