Macht das Alter maßlos?

Ein Geständnis.

Der Dirigent Pierre Monteux – ein weltberühmter Mann, der immerhin 1911 in Paris die Uraufführung von Strawinskys Petrouchka-Ballett geleitet hat und 1913 die Riesen-Skandal-Premiere des Sacre du Printemps – war als uralter Herr so klein und energiesparsam geworden, dass er in seinen Konzerten während der Pausen den Weg vom Podium in die Künstlergarderobe vermied und sich lieber in die Mulde seines Kontrabasses legte, um ein wenig zu schlafen. Als man jedoch den 85-jährigen, vergnügt aktiven, trefflichen Künstler noch einmal an ein Haus binden wollte, verlangte Monteux einen Zehnjahresvertrag. »Zehn Jahre?«, wurde er ungläubig gefragt. Auf zwanzig wolle er sich doch nicht binden, soll er ungerührt geantwortet haben. Der 90-jährige Rubinstein wiederum versprach seinen polnischen Landsleuten fest, seinen 100. Geburtstag werde er natürlich bei ihnen in Warschau feiern. Nur starb er leider schon mit 95.

Ja, das Alter macht, einerseits, irgendwie maßlos. Der Beruf, den man lebenslang ausgeübt, die Arbeit, der man sich mehr oder weniger passioniert, mehr oder weniger stöhnend, mehr oder weniger erfolgreich hingegeben hat, erweist sich als Zuflucht, solange Kopf und Hände einigermaßen funktionieren. Denn während man tut, was man jahrzehntelang getan hat, empfindet man Zeitlosigkeit. Man ist »drin«. Wer in jungen Jahren – unternehmungslustig, ehrgeizig, neugierig – zugleich kokett und asozial jammerte: »Ich kann nicht richtig leben, nur arbeiten«, empfindet diese déformation professionelle im Alter wie eine Rettung. Das hat wenig zu tun mit sogenannter Erfahrungs-Fülle, gar mit Abgeklärt-Sein. Leider irrte Goethe nicht mit seiner Drohung: »Wenn man alt ist, muss man mehr tun, als da man jung war.« Mehr heißt, so scheint mir, hauptsächlich, dass es immer mühsamer wird, anzufangen. Das geht mit dem Aufstehen los, zumal wenn der vorausgegangene Abend auch nur mäßig alkoholbeschwingt verlief. Dann wird man brutal auf den Doppelsinn des Wortes »Morgen-Grauen« gestoßen. Einem jungen Intellektuellen, der erfüllt ist von Engagement und unaustilgbarem Äußerungstrieb, machen überraschende Anforderungen, plötzliche, unvorhersehbare Aufgaben sportiven Spaß. Später sichert man sich lieber ab, vertraut dem allerletzten Augenblick nicht mehr. Es fehlt das dreiste Wagen.

Anfängliches Zögern, schweres In-Gang-Kommen lässt sich natürlich auch als Anzeichen dafür nehmen, dass man sich einer Sache (noch) nicht hinreichend gewachsen fühlt. Darum schiebt man sie ja auf. Und verdrängt jene peinliche Frage, die sich dem jungen Autor kaum stellt: nämlich ob man überhaupt je einem bedeutungsvollen, lebendigen Objekt gewachsen sein, je ganz fertig sein kann mit ihm.

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So ist Altersmaßlosigkeit paradoxerweise verschwistert mit Altersbeklommenheit. Verwundert stellt man fest, dass einem »über den Kopf wächst«, was früher gewiss auch lästig war: Das widerwärtige, nur eben unvermeidliche »Aufräumen« von Büchern, Briefen, Platten, das Kurieren oder Hinnehmen von Krankheiten, Katastrophen bereitet wahrlich in keiner Lebensphase Vergnügen, ist auch Jüngeren verhasst.

Doch das Alter – wo bleibt die Weisheit? – bauscht gerne auf bis zur Panik. Wohl dem, der sich ein fundamentales Vertrauen zum Dasein wie zur Zukunft zu bewahren vermag. Mit allen Plänen, Rezepten, Strategien, die beim Altern vernünftig zu befolgen wären, verhält es sich anscheinend folgendermaßen: Will man ein Buch, einen Aufsatz, einen Vortrag produzieren, dann hat die Sache in dem Moment Gelingens-Chancen, da man ein klares Konzept besitzt, sich zurechtgelegt hat, womit man anfängt, wie die Hauptargumente lauten, was als Schluss drankommt.

Andererseits darf man auch nicht gar zu genau wissen, was man sagen will. Dann verkümmert das Ich nämlich zum bloßen Vollzugsorgan. Und erlebt keine beglückenden Überraschungen mehr durchs Entstehen neuer Gedanken, Bilder, Motive.

Hier weitere Fragen über das Alter:

Frage 1:
Fühlt man sich im Ruhestand nutzlos?
Frage 2:
Wie wichtig ist im Alter das Aussehen?
Frage 3:
Entwickelt man sich mit den Jahren zum Reaktionär?
Frage 5:
Wie wird es sich anfühlen, an früher zu denken?
Frage 6:
Was kann man tun, um im Alter nicht müde zu werden?
Frage 7:
Was tun, wenn man nicht ins Altersheim will?
Frage 8:
Wie geht man mit Krankheit um?
Frage 9:
Was verändert sich im Alter überhaupt nicht?
Frage 10:
Macht es melancholisch, plötzlich Opa zu sein?