REICH BESCHENKT
Das Beste, was zwei Menschen an Heiligabend passieren kann: ein Kind.
von Uslar, Moritz
Es war das Weihnachten der geisteskranken Fliegen. Fliegen im Dezember? Ganz genau. Fliegen im Dezember. Fliegen am 24. Dezember, abends, gegen achtzehn Uhr. Draußen schmolz der Schnee. Wir, die Familie alter Vater, liebe Mutter, lustiger Onkel, Zwillingsschwester mit Freund und Tochter, der supersüßen Friederike, mit knapp drei Jahren im besten O Tannenbaum-Alter , wir saßen da am großen, runden Tisch, der schon Hunderte Weihnachten erlebt hatte, und versuchten, mit der Gänseleberpastete, den Fischpastetchen von Dallmayr und den anderen Köstlichkeiten, die es nur an Heiligabend gibt, ein wenig von der Feierlichkeit in uns hineinzulassen, die sich für diesen Abend gehört. Jedes Jahr derselbe Stress: Punkt achtzehn Uhr soll es dann feierlich werden. Wird es dann aber immer nicht. Bisher war es, wie jedes Jahr, nur ein merkwürdig frühes Abendessen, zu dem es Gänseleberpastete gab.
Schwester, kauend: »Brutal. Die stopfen der Gans das Futter in den Hals, damit die Leber schön fett wird.«
Vater, kauend: »Mir ist jedes Gänseschicksal recht, wenn am Ende so eine köstliche Pastete dabei rauskommt.«
Mutter: »Genießt doch einfach.«
Jedes Jahr diese Unterhaltung. Stoffservietten, die zerschlissenen; Silberleuchter, die verbeulten; das Engelorchester aus Porzellan, das sich die Familien, die mit Stoffservietten und Silber feiern, Mitte der siebziger Jahre gekauft haben. Der Flötist flötet in eine abgebrochene Flöte, dem Harfenisten fehlt ein Arm. Angenehm, irgendwie nicht unlässig, dass die Gegenstände, die die Heiligkeit verbreiten sollen, immer gleich kaputt auf den Tisch kommen. Oben auf dem Weihnachtsbaum steckte das Großheiligtum der Familie, der Weihnachtsengel, den die Uroma 1918 oder 1848 genäht hatte, wirklich ein toll zerzaustes, toll verlottertes Vieh. Es war dies außerdem der Heilige Abend, an dem das Buttermesser gleich wie an den Heiligen Abenden zuvor unbenutzt auf dem Tisch liegen blieb, weil es Buttermesser eben nur an Heiligabend gibt.
Es wurde dann minutenlang nur gegessen und sich betont zuvorkommend die Teller gereicht. Friederikchen ließ sich Toastbissen in den Mund schieben. Meine Freundin, die wunderbare Mutter unseres Sohnes Frederik Ferdinand Maria, an diesen Weihnachten acht Wochen alt , sie war jetzt vollauf damit beschäftigt, ihre Hände, die den Teller einrahmten, nicht zu bewegen, nicht aufzustehen, nicht nach ihrem Sohn zu sehen. Das gelang ihr lächelnd.
Frederik, der Säugling, lag nebenan im abnehmbaren Aufsatz des Kinderwagens auf dem Bett und schlief einfache Rechnung immer so lange, wie er gerade nicht schrie. Für ihn lief leise True Lies mit Arnold Schwarzenegger, der Weihnachtsfilm auf RTL 2. Sie, Freundin, spielte nun mit den Osanit-Kügelchen.
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EINSAM WACHT
Die Eltern feiern, ihr Sohn bleibt lieber allein. Mit sich und dem Meer.
von Holger Gertz
Die Begriffe Weihnachten und Einsamkeit gehören für mich zusammen, ich bin da sozusagen frühkindlich geprägt. Alles fängt bei meinen Eltern an: Meine Eltern sind eher Naturmenschen, die es lieben, im Sommer draußen zu sein, mit dem Fahrrad herumzufahren, Bohnen auf dem Gartentisch zu schnibbeln, die Bäume zu beschneiden, den Goldfischteich sauber zu machen. Wir haben einen großen Garten mit viel Auslauf, da bleibt für beide im Sommer genug zu tun, und wenn sie es geschickt anstellen, müssen sie sich nicht allzu oft begegnen. Dreißig Jahre Ehe, da sind manchmal alle Wörter aufgebraucht.
Die Sommer waren in Ordnung zu Hause, schlimm waren die Winter, am schlimmsten war Weihnachten. An Weihnachten verändern sich die Menschen. Das habe ich immer an Weihnachten gehasst, dass es die Menschen deformiert. Mein Vater kaufte am 23. Dezember den Tannenbaum, nicht zu groß, nicht zu teuer. Der stand immer hinten in der Ecke des Wohnzimmers, vor dem Schrank mit dem Telefon, weshalb man den Hörer nur durch Tannenzweige hindurch greifen konnte, wenn das Telefon klingelte. Sobald der Baum im Haus war, fingen meine Eltern an zu streiten. Dabei war Streit eigentlich wider ihre Natur. Beide wählen die SPD, beide finden, dass Ausländer durchaus Recht haben mit ihrem Wunsch, in Deutschland leben zu wollen, beide tragen Marienkäfer, die sich in die Wohnung verirrt haben, am spitzen Finger vor das Haus und warten, bis sie losfliegen. Aber an Weihnachten wurden sie aufeinander geworfen, irgendetwas staute sich, entlud sich in Streit: »Der Baum ist nicht gerade gewachsen«, sagte meine Mutter. Immer hatte meine Mutter die falschen Kugeln ausgesucht, sagte mein Vater. Wollte sie in einem Jahr Lametta am Baum, hätte er am liebsten den Baum pur gehabt. Wollte er im nächsten Jahr Lametta, war keins mehr in dem großen, alten Koffer, in dem die Weihnachtssachen das Jahr über verwahrt wurden. Ein gewaltiger Koffer, der so muffig roch wie das fand ich später heraus die U-Bahn-Schächte in Hamburg, komischerweise nur die in Hamburg. In München riechen sie anders.
Jedenfalls, es gab immer Anlass für Gebrüll, es war lächerlich unbedeutend, aber es reichte, um Weihnachten kaputtzumachen. Meine Eltern sind sehr stolz, aber sehr sensibel sind sie auch. Nordmenschen eben. Wenn ich an Weihnachten denke, sehe ich meinen Vater halb schlafend in seinem Lieblingssessel vor dem Tannenbaum sitzend, sein Schlafen sah wie Lauern aus. Er sagte nichts. Manchmal schwieg er bis ins neue Jahr.
Nie war meine Familie, jeder für sich und alle zusammen, einsamer als an Weihnachten. Bald begann ich, vor Weihnachten zu fliehen. Einmal kriegte ich Fieber und konnte die drei furchtbaren Tage lang einsam im Bett bleiben. Später, als Zivildienstleistender im Behindertenheim, übernahm ich freiwillig den Heiligabenddienst. Abends, als alle im Bett waren und ich einsam vorm Fernseher saß, rief ich vom Dienst aus meine Eltern an. Nachdem abgehoben wurde, konnte man erst mal nur ein Rascheln hören, das waren die Zweige des Weihnachtsbaums, die meine Mutter erst zur Seite drücken musste, bevor sie sich melden konnte. Der Baum stand vorm Telefon. Es war wie immer. Und als die Stimme meiner Mutter »Frohe Weihnachten« sagte, klang das so absurd, wie es nur klingen kann, wenn das Wort froh mit so matter, müder Stimme ausgesprochen wird.
So gesehen ist es nichts wirklich Neues, als ich an Heiligabend 2003, nachmittags um zwei, am Fähranleger in Norddeich stehe, um Weihnachten in der Einsamkeit einer Insel zu verbringen. Allerdings, zum ersten Mal dient die Einsamkeit einem beruflichen Auftrag, nicht der Flucht. Oder: Ich kann die Flucht mit dem Auftrag verbinden. Eine Geschichte über Einsamkeit an Heiligabend. Die Fähre, ein schönes Schiff der Frisia-Reederei, legt ab, Richtung Norderney.
An Bord, neben mir, ein Dutzend Menschen. Ein altes Ehepaar, vier Studentinnen, eine mittelalte Frau, ein Ehepaar mit seinen drei Kindern, der Junge so zehn Jahre alt, die Mädchen vielleicht vier und sechs. Die Fahrt dauert eine halbe Stunde, dann sind wir da. Am Anleger auf Norderney stehen ein paar Betonsäulen, an einer haben sie, drei Meter über dem Boden, einen Weihnachtsbaum vertäut, dessen Äste vom Seewind hin und her geschleudert werden. »Da, der Tannebaum!«, ruft das Mädchen. Kinder sagen immer Tannebaum, an Weihnachten. Auch wenn sie den Rest des Jahres wissen, dass es Tannenbaum heißt. Jedenfalls, mich erinnert der Baum am Betonpfeiler eher an einen Menschen, den ein verrückter Diktator als Schutzschild an ein Waffenlager hat ketten lassen, um das Bombardement alliierter Kräfte zu verhindern.
Wie gesagt, was Weihnachtsbäume angeht, bin ich negativ geprägt.
Es dämmert schon auf Norderney. Ich habe ein Zimmer im Hotel »Vier Jahreszeiten« reserviert. »Das Hotel ist gut gefüllt«, sagt die Frau an der Rezeption, »wir haben viele Familien hier über die Weihnachtstage. Sie sind allein?« Sie fragt das, na ja, etwas verwundert.
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Ich bin allein. Ehrlich gesagt, ich bin Weihnachten immer allein.
Sie sagt, ich könne aber abends nicht ins Restaurant, auf gar keinen Fall. Geschlossene Gesellschaft.
Ich sage, irgendwo auf der Insel werde schon was geöffnet haben.
Sie schaut mich etwas irritiert an, als fürchte sie, ich würde mich umbringen, oben in meinem Zimmer, oder sonst was Schlimmes. Aber ich wasche mir oben in meinem Zimmer nur die Hände, mache kurz den Fernseher an, da läuft eine Folge mit Michel aus Lönneberga, wie er gerade den Alten im Armenhaus von Lönneberga riesige Würste vorbeibringt. Ich mache den Fernseher aus und gebe den Schlüssel an der Rezeption ab. An der Restauranttür hängt jetzt das Schild: Geschlossene Gesellschaft.
Ich will runter ans Meer, aber vorher noch kurz etwas essen. Die »Nordseestube« hat geöffnet, der Wirt heißt Ralf, es ist abends kurz vor sechs, Bescherungszeit hieß das früher, und Ralf sagt, er will den Laden bald dichtmachen. Heiligabend essen die meis-ten im Kreise der Familie in den paar Norderneyer Hotels, die geöffnet haben, da verirrt sich kaum einer zu ihm, schon gar nicht einer, der allein reist. Kommt da noch jemand dazu, an Ihren Tisch?, fragt Ralf.
Ich denke nicht.
Hmm. Er will die Karte holen, aber weil die Küche allmählich schließt und es schnell gehen muss, rattert er die Gerichte auswendig runter. Es gibt vor allem Rührei, Bratkartoffeln, Krabben. »Nehmen Se mal die doppelte Portion, da ham Se wenigs-tens was zu beißen«, sagt Ralf. Er kann offenbar sehr mütterlich sein, wenn er Mitleid hat, und ich bin sein einziger Gast. Da kriege ich sein ganzes Mitleid und Bratkartoffeln mit Krabben, die doppelte Portion, mindestens. Als ich aufgegessen habe und zur Tür will, klopft er mir, so halb von hinten, auf die Schulter.
Dann endlich: zum Meer. Ich bin oft auf Norderney, vier-, fünfmal im Jahr. Ich mag das Meer. Ich bin nicht weit vom Meer geboren, aber als ich noch nahe am Meer lebte, bei meinen Eltern, bedeutete mir das Meer nicht viel. Seit ich in der Nähe der Alpen wohne, im Exil sozusagen, wird es mir immer wichtiger. Wenn mich jemand fragte, in einem dieser Fragebögen, was das wäre, mein Traum von Glück, dann hätte ich schon eine Antwort: am Meer sein. Das Meer ist dieses Weihnachten mein Geschenk, ich habe es für mich allein. Fast sieben Uhr, es regnet leicht, es geht ein warmer Weihnachtswind, am Strand ist niemand. Sitzen alle im Hotel, singen Weihnachtslieder.
Ich sage übrigens immer: Ich gehe ans Meer. Wenn jemand sagt, er gehe an den Strand, finde ich, dass er diesen schmalen schmutzigen Streifen Sand überbewertet. Das Meer ist doch viel größer als der Strand, vor allem nachts, wo man den Strand nicht richtig sieht. Vor allem Weihnachten, da bedeutet der Strand nichts. Aber das Meer: alles. Ich höre die Wellen. Früher habe ich am Meer immer die Augen zugekniffen und den Wellen zugehört. Ich stellte mir vor, in einem Fußballstadion zu stehen, im Strafraum, und das Rauschen der Wellen war wie das Jubeln von hunderttausend Zuschauern. Heute, an Heiligabend, mache ich die Augen zu und das Rauschen kommt mir nicht wie Jubel und Ekstase vor, sondern wie das Gegenteil, wie Ruhe oder Gelassenheit.
Ich mag Weihnachten nicht, weil Weihnachten die Menschen verändert. Weihnachten macht meinen Vater einsilbig und meine Mutter schwermütig. Die Frau an der Rezeption macht sich Sorgen um mich, oder um das Inventar des Hotelzimmers weil ich allein bin, an Weihnachten. Ralf, der Wirt, presst sich etwas Mitleid ab, weil ich allein bin, an Weihnachten, und er füttert mich mit Bratkartoffeln. Damit ich ruhig bin und gestopft. Wie sich das gehört, an Weihnachten. Ich hasse Weihnachten.
Das Meer ist immer nur das Meer. Das Meer ist das Gegenteil von einer geschlossenen Gesellschaft. Dem Meer bedeutet jeder Tag genauso viel oder genauso wenig wie dieser 24. Dezember, und so verlässlich es herbeiflutet und abebbt, so sehr fällt es auch aus der Zeit. Wenn man aufsteht, rauscht es, wenn man ins Bett geht, kann man es immer noch hören. Das Meer ist für alle und heute ist es für mich. Ich setze mich in den Sand und versuche, eine Zigarette zu rauchen, aber der Wind bläst sie aus und der Regen macht sie nass.
Irgendwann gehe ich zurück ins Hotel. Der Hosenboden ist feucht. Heiligabend ist überstanden. Ich rufe meine Eltern an. Jemand nimmt ab, das Rascheln der Tannenzweige, meine Mutter ist dran. Sie hat ihre Heiligabendstimme und sagt »Frohe Weihnachten«.
Da gehe ich noch mal ans Meer.
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BEI GOTT
Die Kerzen brennen, die Kinder singen. Und die Mutter fehlt. Unendlich.
von Susanne Schneider
Auf dem Wunschzettel für Weihnachten hatte mein Sohn folgende Posten notiert: PlayStation 2, Real-Madrid-Trikot (weiß), CD-Player (tragbar), Gameboy Advance SP, Snowboard. Darunter der Satz: »Hoffentlich kriege ich viel davon.« Große, teure Wünsche und doch leicht erfüllbar im Vergleich zu den kleinen, die am Ende eines Lebens stehen. Der letzte Wunsch, den meine Mutter unter der Sauerstoffmaske artikulieren konnte, lautete: »Apfelsaft«. Sie hat ihn nicht mehr bekommen, sie wäre daran erstickt. Sie starb einen Tag später, am 14. Juli. Da haben wir ihr Bild aufgestellt, ein Glas Apfelsaft davor.
Es wurde August und sie war nicht mehr da, um zu fragen: »Weißt du schon, was du des Jahr an Weihnachten kochst?« Immer stellte sie diese Frage im Hochsommer, nicht aus mangelndem Zeitgefühl, sondern aus Taktik: Sie war überzeugt, wenn sie nur früh genug anfinge zu organisieren, würde das Weihnachtsfest auf die einzig richtige Art ablaufen auf ihre, also wie es sich gehörte, so wie sie es immer gemacht hatte. Bis mein Mann in ihr Leben trat, bis unser Sohn geboren wurde und wir Weihnachten mit der ganzen Familie nicht mehr bei ihr, sondern bei uns zu Hause feierten. Damals begann die Auseinandersetzung darüber, wer die Hoheit über den einzig richtigen Ablauf des Weihnachtsfestes behalten würde.
Mein Mann will nämlich den Heiligen Abend auch auf die einzig richtige Weise begehen, auf seine. So wie er es kennt, von früher: Erst soll die Familie sämtliche Weihnachtslieder singen, deren erste Strophe wenigstens einer von uns beherrscht, dann liest der Vater die Weihnachtsgeschichte vor: »Und es begab sich...« Zum Essen sollte es Karpfen geben, den hat seine Mutter immer bereitet.
Meine Mutter hasste Karpfen, wollte nur ein Lied singen, nämlich Stille Nacht, keine Weihnachtsgeschichte lesen und spätabends nicht in die Christmette gehen wie mein Mann. Damit diese Sitten nicht einzögen bei uns, baute sie ab August vor. Und spätestens im September insistierte sie: »Wir singa aber ned so vui Liadl desmoi, gell?« Und sie ging mir auf die Nerven damit.
Ach, hätte sie nur insistieren können, diesen Sommer, ich verspreche, ich hätte mich nicht geärgert. Mehr noch, ich hätte mich sofort überreden lassen, ihre Lieblingsweihnachtsplatte aufzulegen: Die Don Kosaken singen Deutsche Weihnachtslieder. So aber wurde es Oktober und November. Kein Mensch, der von mir wissen wollte, was ich koche, wie viele Lieder wir singen. Nur ich wollte, dass es niemals Weihnachten würde oder wenigstens, dass es schon vorbei wäre.
Als ich Kind war, habe ich Heiligabend mit meinen Eltern und Geschwistern gefeiert, als ich erwachsen wurde, wechselte sich die Familie allmählich aus, mein Mann, meine Tochter, mein Sohn kamen hinzu, meine Geschwister blieben manchmal fort, manchmal feierten sie mit und ihre Kinder auch. Nur meine Mutter war immer da. Wie soll das gehen: Weihnachten ohne dich?
Der orangefarbene Sessel war ihrer. In den setzte sie sich nach dem ersten Lied, weil ihre Beine nicht mehr so mitmachten, aber auch um zu demonstrieren, dass für sie »des Gsangl« nun beendet sei. Spätestens wenn wir zum dritten Lied anhoben, zischte sie aus dem Sessel hervor: »Geh, ned no oans!«
Diesmal hat sich meine Schwiegermutter in den orangefarbenen Sessel gesetzt, ganz unbefangen, das war tröstlich. Der Abend aber zog an mir vorbei wie ein flimmernder Film. Ich habe kaum Erinnerungen. Immerhin, die Routine rettet einen: Der Christbaum war geschmückt wie sonst auch, wir haben ein paar Lieder mehr gesungen, als meiner Mutter lieb gewesen wäre die anderen, ich nicht, mir erstarb die Stimme. Dann haben die Kinder ihre Geschenke ausgepackt, Anna, die Tochter meines Bruders, bekam Lego, mein Sohn das Snowboard und die PlayStation, die auf seinem Wunschzettel standen. Wie soll ich sagen? Dann haben wir eben gegessen wie immer, Fondue, keinen Karpfen. Wir werden auch irgendwas geredet haben, aber ich weiß nicht mehr, was.
Alles war trauriger als sonst, aber nicht für alle und nicht sehr. Nur einmal musste meine Tochter das Zimmer verlassen, die Tränen hatten sie übermannt. Ich glaube, meine Mutter wäre zufrieden gewesen mit uns. Für sie haben wir eine Kerze ins Fenster gestellt, als Zeichen der Erinnerung.
Dieses Jahr wird ein neuer Mensch mit uns feiern, Lena, ihr siebtes Enkelkind. Sie wurde auf den Tag neun Monate nach dem Tod meiner Mutter geboren. Und vielleicht liegt ja ein tieferer Sinn von Weihnachten auch darin, das Leben als immer währenden Kreislauf zu begreifen, als Kommen und Gehen. Stirb und werde.
Mami.
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CHRISTKINDER
Auf der Geburtsstation kehrt in keiner Nacht Stille ein.
von Marcus Jauer
»Ein schöner Junge«, sagt die Schwester zu der Frau unter dem grünen Tuch. Es bedeckt sie vom Scheitel bis zu den Beinen. Bis auf eine Stelle in der Mitte, da klafft ein Schnitt im Stoff. Und in der Frau. »Jetzt haben Sie's überstanden«, sagt die Schwester, »Sie können zufrieden sein.«
Aber die Frau antwortet nicht. Nach einer Rückenmarksspritze dämmert sie im Halbschlaf der Narkose, außerdem spricht sie kein Deutsch. Sie kommt von den Philippinen, ihr kleiner Körper hat gerade ein großes Kind zur Welt gebracht. Es war ihr zweites und auch ihr zweiter Kaiserschnitt.
Sieben Ärzte, Assistenten und Schwestern stehen um sie herum, in blauen Kitteln und grellweißem Licht. Konzentrierte Stille, die nur vom gleichmäßigen Piepen des Herztons durchbrochen wird. Oberarzt Holger Stepan, 36, verödet die blutenden Adern mit einem Elektrokauter, der wie ein Stift aussieht und ein brutzelndes Geräusch erzeugt, wenn er auf das Fleisch trifft. Es riecht verbrannt.
»Jetzt machen wir noch die alte Narbe weg«, sagt er und trennt mit dem Skalpell einen Streifen Haut ab. »Der Special-Christmas-Kitt.« Er tackert den Schnitt mit Metallklammern zusammen, streift Mundschutz und Handschuhe ab und geht in das Zimmer nebenan. Dort liegt der Junge unter einer Wärmelampe. Die Mutter hat ihn kurz gesehen, gerade hat ihn eine Schwester gewaschen. Nun hebt Stepan den Neugeborenen hoch, aber der schlägt nicht einmal die Augen auf.
»Ein kleiner Buddha«, sagt der Oberarzt. Und das zu Weihnachten.
Heiligabend auf der Geburtsstation der Unifrauenklinik Leipzig. Die roten Ziffern der Digitaluhr, die im leeren Gang an der Wand hängt, zeigen 19.53 Uhr. Links gehen fünf Zimmer ab, in denen die Geburts-stühle stehen. Rechts liegen die Räume der Hebammen und Ärzte. In einem davon laufen Messkurven über einen Monitor, anhand der Herztöne von Frauen und Kindern können die Ärzte überprüfen, wie weit die Geburten auf der anderen Seite des Gangs fortgeschritten sind. Die Wände sind mit Babyfotos dekoriert, alles wirkt hell und freundlich, wie in einem Motel. Über den Empfangstresen, neben der gläsernen Eingangstür, ist eine Schnur mit Babysocken gespannt, der Adventskalender.
Ein paar Meter weiter steht eine Sitzgruppe in einer Nische. Drei junge Männer warten dort im bunten Schein eines Weihnachtsbaums. Einer redet. Einer hockt still da. Einer steht immer wieder auf. Das ist André Matos.
Noch vor einer halben Stunde saß er mit seiner Freundin Julia beim Weihnachtsessen, Schnitzel mit Blumenkohl, der Fernseher lief, da bekam sie plötzlich diese Schmerzen. Er vermutete sofort: die Cervix. Julia ist im siebten Monat und hat immer wieder Probleme mit der Schwangerschaft. Er würde ja sonst diese ganzen Begriffe überhaupt nicht kennen. Die Cervix zum Beispiel sei der Muttermund, erklärt er.
André, 25, hat seine Freundin Julia, 21, vor einem Jahr im Internet kennen gelernt. Sie kam aus Bremerhaven, er wohnt in Leipzig. Am Anfang sind sie gependelt, später zog sie hierher zu ihm. Er hat ja kein Auto. Darum musste er auch seinen Freund Jens anrufen, damit er sie in die Klinik fährt, den stämmigen Typen neben ihm, der ständig auf ihn einredet, obwohl André Matos schon seit einigen Minuten nicht mehr antwortet.
»Ich finde das eklig, dass du jetzt Vater wirst«, sagt Jens gerade.
André sagt nichts. Er steht auf. Von der Sitzgruppe aus kann er den Gang nicht einsehen. Im dritten Zimmer links wird Julia behandelt. Über der Tür brennt noch die rote Lampe, Eintritt verboten heißt das. Da setzt sich André wieder hin. Ein schmaler Kerl mit dem Gesicht eines Jungen.
»Wieso bist 'n nicht mit rein?«, fragt sein Freund.
»Ich sollte nicht«, sagt André.
»Und wieso?«
»Haben sie nicht gesagt.«
»Wahrscheinlich, damit du nicht spitz wirst!«
André Matos arbeitet als Fensterputzer. Jede Nacht steht er um zwei Uhr auf, die Scheiben müssen sauber sein, wenn die Leute ins Büro kommen. Den Schlaf holt er tagsüber nach. Das gefällt Julia vielleicht nicht, aber das hat sie gewusst, als sie zu ihm zog. Es war schwierig mit ihr in der letzten Zeit. Manchmal erkannte er sie gar nicht wieder: Sie bekam Wutanfälle und zweimal war sie kurz davor, nach Bremerhaven zurückzufahren. Außerdem telefoniert sie ständig mit ihrer Mutter.
»Dabei kann die doch da auch nichts machen«, sagt André.
»Eure Beziehung ist ja alles andere als harmonisch«, meint sein Freund. Und jetzt bekommt ihr zu allem Überfluss auch noch ein Kind, denkt er wohl.
Jens und André sind zusammen zur Schule gegangen. Nach der zehnten Klasse haben sie und ein paar andere überlegt, wer von ihnen zuerst Vater werden würde. Alle tippten auf Jens. Aber nun wird es doch André und Jens scheint froh, im Moment nicht in Andrés Haut zu stecken.
»Würde mich wundern, wenn du 'n Jungen kriegst«, sagt er.
André antwortet nicht. Da wendet sich Jens an den Mann, der schon die ganze Zeit neben ihnen auf dem Sofa sitzt und noch kein Wort gesagt hat. Ein Junge mit schwarzen Haaren und bronzefarbener Haut, der sich in seiner dicken Jacke verkriecht. Er kommt aus dem Irak, seine Freundin aus Leipzig. Sie liegt im ersten Zimmer links. Die Wehen waren schon sehr stark, als sie in die Klinik fuhren.
»Denkst du, dass das Kind deine Hautfarbe hat?«, fragt Jens.
»Weiß ich nicht«, sagt der Iraker.
Da geht die Tür auf. Ein Baby schreit sein Sohn. Die Hebamme ruft, er verschwindet im Zimmer und nach ein paar Minuten steckt er noch einmal den Kopf aus der Tür. »Er sieht aus wie ich«, ruft er glücklich, »wie ich!« André bleibt mit seinem Freund zurück. Sie reden über Computerspiele. Später eilt ein Assistenzarzt an ihnen vorbei und aus einem der Geburtszimmer tönt Babygeschrei. André hält mitten im Satz inne und reckt den Kopf in den Gang, aber die Laute kommen nicht aus dem Raum, in dem Julia liegt.
Am anderen Ende des Gangs, im Ärztezimmer, sitzt Oberarzt Holger Stepan nach der Operation mit vier Kolleginnen zusammen. Der kleine Buddha war das fünfte Kind, das heute geboren wurde. Auf dem Tisch glänzt ein mit Lametta geschmückter Weihnachtsbaum. Darunter liegen Geschenke, die noch nicht ausgepackt wurden, und Pralinen, die krümeln, wenn man hineinbeißt. Jemand hat Tiramisu gemacht. In der Küche nebenan kochen Pelmeni, russische Tortellini, zu denen es saure Sahne gibt. Es riecht nach Fleisch und Majoran.
Holger Stepan sagt: »In der Geburtsmedizin geht das meiste gut aus. Wir behandeln Gesunde, keine Kranken, helfen neuem Leben auf die Welt, statt altes zu reparieren. Man läuft der Zeit also nicht nach, sondern ist ihr irgendwie voraus. Das mag ich an dem Beruf.«
Für das Personal hier ist Heiligabend ein Tag wie jeder andere: Heute werden Kinder geboren, morgen wieder welche und Silves-ter haben andere Kollegen Dienst. Natürlich hat fast jeder von ihnen jemanden, der gerade zu Hause wartet. Natürlich wäre jeder lieber dort. Doch bleibt zwischen den verschiedenen Geburten und Operationen wenig Zeit, melancholisch zu werden. Und wenn man schon an Weihnachten, dem Fest der Geburt, arbeiten muss, dann ist eine Station wie diese wahrscheinlich der beste Ort dafür.
Eine Hebamme klopft an die Tür. Zwei Notfälle seien auf dem Weg in die Klinik, sagt sie. Außerdem gebe es Beschwerden über den Geruch der Pelmeni, der aus dem Topf quillt und von dort über den Gang und in die Zimmer zieht. So könne sie nicht gebären, habe eine der Frauen geklagt. Holger Stepan lächelt und steht auf.
Vor zwei Tagen hat er die Jungen von Elena Gepting auf die Welt gebracht, Jonas und Arthur. Es hätte noch ein dritter sein können, sein Name wäre wohl Anton gewesen. Aber in der achten Woche der Schwangerschaft hörte sein Herz auf zu schlagen. Die Ärzte mussten ihn holen, um die anderen nicht zu gefährden. Elena Gepting weiß, dass es nicht anders ging. Trotzdem, sie denkt immer an dieses Kind: »Ich bin traurig, weil ich einen Teil von mir verloren habe.«
Sie ist Anfang dreißig, eine stille Frau mit dunklen Augen. Nach der Geburt liegt sie jetzt noch ein paar Tage auf der Station, um sich zu erholen. In ihrem Zimmer gibt es nichts, das an Weihnachten erinnert. Sie feiert es aber auch erst seit sechs Jahren an diesem Tag, dem 24. Dezember. Früher lebte sie nämlich in Kasachstan und dort gilt der alte russische Kalender: Weihnachten fällt auf den siebten Januar. Es wird jede Menge gegessen, Väterchen Frost und Snegurotschka, das Schneemädchen, kommen, aber Tannenbäume schmückt man auch dort.
Elena Geptings Mann stammt ebenfalls aus Kasachstan, aber er wohnte dort nicht in einer Stadt. Er lebte in der unendlichen Grassteppe, in der manchmal Büsche vol-ler Nester stehen, weil die Vögel keinen anderen Platz zum Nisten finden. »Es ist wirklich schön dort«, sagt Elena Gepting und man merkt, wie sehr sie ihre Heimat vermisst. »Aber nur die Landschaft macht das Leben auch nicht aus.«
Einige Wochen nachdem das dritte Kind gestorben war, überwiesen die Ärzte Elena Gepting wieder in die Klinik. Es bestand die Gefahr einer Frühgeburt. Drei Monate lang musste sie liegen. Sie spürte, wie die Kinder im Bauch strampelten, und durfte sich nicht bewegen. Ihre Jungs wurden immer noch zu früh geboren. Aber nun leben sie und vielleicht wird alles wieder gut.
Kurz vor elf kommt Holger Stepan auf die Geburtsstation zurück. Er blickt den leeren Gang hinunter. Jemand hat die Lichter am Tannenbaum ausgeknipst und in der Sitzgruppe wartet niemand mehr; André Matos und seine Freundin sind zurück zu ihrem Schnitzel gegangen, ihr Kind wollte doch nicht am Heiligen Abend auf die Welt kommen. Stepan sieht müde aus, aber sein Dienst endet erst in neun Stunden; eine Frau liegt im Moment in den Wehen, bei der könnte es bald losgehen. Vor drei Monaten wurde hier auf der Station sein eigener Sohn geboren. Stepan war dabei aber als Vater, nicht als Arzt. Er wollte das so.
Holger Stepan hat 150 Kaiserschnitte gemacht und wer weiß wie viele Geburten. Er hat Erfahrung. Aber gerade deshalb wollte er nur dabeistehen, als seine Frau den gemeinsamen Sohn bekam. Fast jeden Tag sieht er, wie eine Geburt die Eltern überfordern kann. Zuversichtlich kommen sie in die Klinik, haben Bücher gelesen, Kurse besucht und alle nötigen Untersuchungen absolviert. Und dann sehen die Männer ihre Frauen plötzlich in einer Situation, in der sie ihnen nicht helfen können. Und die Frauen spüren eine Gewalt, die ihnen bisher nicht begegnet war. Einen Schmerz, der mit nichts verglichen werden kann. Ein Erlebnis, ja. Sogar eine Art Wunder der Natur, immer wieder erhebend. Aber doch etwas, das sich nicht kontrollieren lässt.
»Man kann nur versuchen, die Balance zu finden zwischen Kämpfen und Sich-Ergeben«, sagt Holger Stepan. Darum gehe es bei der Geburt. Wie bei allem, was danach kommt, eigentlich auch.