Der Arzt in meiner Hand: Neue Geräte und Apps revolutionieren die Welt der Medizin.
Fast jeder kennt seine Körpergröße und sein Gewicht. Bei dem einen übertreiben, bei dem anderen untertreiben wir. Aber was wissen wir sonst über unseren Körper? Richtig. Fast nichts.
Die meisten Menschen haben nur ein medizinisches Gerät zu Hause. Es ist eine Erfindung von 1867: das Fieberthermometer. Wenn es um die Gesundheit geht, hinkt die Digitalisierung hinterher. Unternehmen wie Apple, IBM oder Google wollen das ändern, sie haben den Körper als Geschäftsmodell entdeckt. Sie entwickeln Apps und Geräte, mit denen wir unsere Körper so einfach und regelmäßig checken sollen wie unsere E-Mails.
Dahinter stehen zwei Gedanken. Erstens: Wer sein Leben vermisst, optimiert es. Zweitens: Der Patient wird so mehr und mehr zu seinem eigenen Arzt. Wie weit ist diese Entwicklung schon?
BALD
Die Zukunft der Medizin ist aus weißem Kunststoff, hat einen Durchmesser von fünf Zentimetern und die Form eines Eishockey-Pucks. Scanadu Scout heißt das Gerät, das die Technik eines Krankenhauses und das Wissen eines Arztes in einem Computer bündeln soll – so klein, dass er in die Hosentasche passt.
Zwanzig Mathematiker, Molekularbiologen und Informatiker haben daran getüftelt. Sie wollen die Welt der Medizin verändern. Es sieht so aus, als könnte das klappen.
Im Januar 2012 startete die »X-Prize Foundation«, eine amerikanische Stiftung, einen Wettbewerb. Die Aufgabe: innerhalb von dreieinhalb Jahren ein tragbares Gerät zu entwickeln, das die wichtigsten Körperwerte messen und 15 verschiedene Krankheiten diagnostizieren kann, darunter Hepatitis, Tuberkulose und Diabetes. Der Gewinner erhält zehn Millionen Dollar, finanziert von Qualcomm, einem großen Mobilfunkanbieter aus San Diego. Als Vorbild dient der »Tricorder« aus Star Trek. Dr. Leonard »Pille« McCoy rettet damit auf dem Raumschiff Enterprise Leben. Der Tricorder ist eine plastikgraue, blinkende Sechzigerjahre-Utopie. Sie soll jetzt Wirklichkeit werden.
34 Teams sind angetreten. Das aussichtsreichste Projekt stammt von Scanadu, einem kalifornischen Start-up aus der Nähe von San Francisco. Der Belgier Walter De Brouwer, 56 Jahre alt, hat es vor drei Jahren ins Leben gerufen. De Brouwer hat sich als Internet- und Technologie-Unternehmer einen Namen gemacht, 1999 versuchte er schon mal einen Tricorder zu bauen – und scheiterte. Damals war die Technik noch nicht ausgereift genug. Diesmal will er siegen.
De Brouwer behauptet, der Scanadu Scout könne die wichtigsten Körperdaten analysieren und an jedes Smartphone schicken. Man müsse ihn dafür nur zehn Sekunden lang auf die Stirn richten. Ein Lichtsensor misst, wie viel Sauerstoff man einatmet. Der Beschleunigungssensor, wie weit sich der Brustkorb beim Atmen hebt, und eine kleine elektrische Platte unter den Daumen nimmt den Puls. Noch sind De Brouwer und sein Team nicht so weit, aber eines Tages soll der Eishockey-Puck auch Diagnosen stellen können.
Auf der Crowdfunding-Plattform indiegogo.com löste der Scanadu Scout Begeisterung aus: 1,6 Millionen Dollar wurden gesammelt. Die Unterstützer können dafür jetzt den Prototypen testen. Die letzten Studien laufen. Dann wird die Food and Drug Administration (FDA), die US-amerikanischen Gesundheitsbehörde, prüfen, ob De Brouwer seine Erfindung als Medizinprodukt verkaufen darf.
199 Dollar soll der Scanadu Scout eines Tages kosten. Für De Brouwer ist das erst der Anfang. Er arbeitet bereits an Scanaflo, einem Urinmessgerät, und Scanaflu, einem Gerät, das Speichel untersucht.
IN DREI BIS FÜNF JAHREN
Telemedizin – das klingt erst einmal nach Achtzigerjahren und dem Telekolleg Biologie in einem dritten Programm der ARD. Für Dr. Heinrich Körtke ist sie ein Versprechen. Er glaubt, dass die Telemedizin helfen könnte, den Ärztemangel in Deutschland zu lindern.
Körtke leitet das Institut für angewandte Teleme-dizin (IFAT) in Bad Oeynhausen. Er hat ein Verfahren entwickelt, an dem in den vergangenen Jahren 8500 Patienten aus Ostwestfalen teilgenommen haben. Es ist simpel, und vielleicht gerade deshalb so umstritten: Körtkes Patienten untersuchen sich selbst.
Sie bekommen die entsprechenden Geräte nach Hause geliefert: einen Blutzuckermesser, wenn sie Dia-betes haben, oder ein EKG-Gerät, wenn sie unter Herzinsuffizienz leiden. Die Patienten prüfen regelmäßig ihre Werte und schicken sie an das Institut. Sie wählen dafür eine Nummer und halten ihre Messgeräte ans Telefon, die Daten werden dann automatisch gesendet.
Die Ärzte an Körtkes Institut sind rund um die Uhr erreichbar. Sie sehen, wenn der Puls ihrer Patienten steigt oder der Sauerstoffanteil sinkt, und können dann die Medikamente besser einstellen oder den Hausarzt benachrichtigen.
Auch andere Firmen haben ähnliche Verfahren entwickelt. Bosch etwa drängt mit dem »Health Buddy« auf den amerikanischen Markt. Zurzeit betreut Bosch dort 50 000 Patienten, darunter viele Kriegsheimkehrer, die an Depressionen leiden. Der »Health Buddy« stellt ihnen jeden Tag Fragen, zum Beispiel: »Fühlen Sie sich niedergeschlagener als sonst?« oder »Haben Sie in den letzten drei Tagen auf Ihre äußere Erscheinung geachtet?« Ärzte werten die Daten aus. Bemerken sie, dass es einem Patienten schlechter geht, rufen sie ihn an, beraten ihn oder verständigen im Notfall Hilfe.
In Deutschland verschreiben Ärzte noch keine telemedizinischen Therapien, weil die Krankenkassen nicht dafür aufkommen. Vor allem Hausärzte sträuben sich. Sie befürchten, die Telemedizin könnte ihnen die Wartezimmer leeren. Körtke sagt, er wolle die Ärzte nicht ersetzen. Er wolle ihnen helfen und die elektronischen Krankenakten der Patienten pflegen. 300 Krankenhäusern und Arztpraxen habe er eine Zusammenarbeit angeboten. Nur sechs machten mit.
In Bayern ist man da vielleicht schon einen Schritt weiter. Für das Projekt »Tempis« haben sich 14 Kliniken zusammengeschlossen, um Schlaganfall-Patienten besser behandeln zu können. Experten aus Regensburg oder München werden schon in der Notaufnahme per Video zugeschaltet. Weniger Ärzte könnten so mehr Patienten versorgen.
Auch Google investiert in die Telemedizin und hat die Firma Calico gegründet. Aber Heinrich Körtke will nicht auf Google warten, er träumt vom »virtuellen Krankenhaus«. Und er hofft auf Angela Merkel.
Ende Januar sagte die Kanzlerin in der ersten Regierungserklärung ihrer dritten Amtszeit, dass »die Telemedizin eine zentrale Rolle« spiele, um die Versorgung durch Fachärzte im ländlichen Raum zu sichern. Körtke glaubt, es werde noch drei bis fünf Jahre dauern. Dann sei die Telemedizin endgültig etabliert.
In fünf bis zehn Jahren
IN FÜNF BIS ZEHN JAHREN
Kämme, die unsere Haare zählen. Toiletten, die Fäkalien wie eine Laborprobe sezieren. Windeln, die melden, wenn sie voll sind. Die Frage ist nicht, ob diese Erfindungen auf den Markt kommen werden, sondern wann.
Der Markt für »mHealth«, also für mobile Gesundheitsgeräte, wächst rasant. Glaubt man der Marktforschungsfirma Research and Markets, wurden 2013 bereits 4,8 Milliarden Euro für solche Geräte ausgegeben, 2018 sollen es mehr als 14 Milliarden Euro sein.
Dem Erfindungsreichtum der Forscher sind kaum Grenzen gesetzt. Schon jetzt gibt es Kontaktlinsen, die anhand der Tränenflüssigkeit den Blutzucker messen. Und Zahnbürsten, die sich über Bluetooth mit dem Smartphone verbinden und die Putzgewohnheiten auswerten.
Laut einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom kann sich jeder fünfte Deutsche sogar vorstellen, sich einen Chip einpflanzen zu lassen, der seine Gesundheit überwacht. Wir müssten dann nicht mehr zum Arzt gehen – der Arzt würde sich bei uns melden, sobald er sieht, dass es uns schlecht geht.
Die Fitnessarmbänder von Nike und Adidas oder die Smartwatches von Samsung oder Sony setzen auf Bewegungssensoren, um biometrische Daten auszuwerten. Wahrscheinlich wird auch die iWatch so funktionieren. Die Computeruhr ist das bestgehütete Geheimnis von Apple. Niemand weiß, wann sie auf den Markt kommen wird. Angeblich arbeiten zurzeit 100 Spezialisten an ihr. Eines Tages soll sie Herztöne hören und vor Herzinfarkten warnen. Allerdings gibt es bereits Konkurrenz. Forscher entwickeln Geräte, die sogar noch viel mehr können sollen:
• Das Unternehmen Vantage Health aus Louisiana arbeitet zusammen mit der NASA an einem Gadget, das scannt, wie viele organische kohlenstoffhaltige Substanzen sich in Lungenzellen ballen. Es soll so Lungenkrebs diagnostizieren.
• PLX Devices aus Kalifornien hat ein batteriebetriebenes Headset erfunden, das die Konzentrationsfähigkeit steigern soll. Ein Sensor, den man links über der Augenbraue auf die Stirn setzt, misst über die Kopfhaut die Gehirnströme und sendet die Daten per Bluetooth ans Smartphone. Dort kann man sehen, ob das Gehirn arbeitet oder sich ausruht.
• Forscher aus Tel Aviv haben das Armband »Angel« entwickelt. Es verfügt über zahlreiche Sensoren und seine Datensätze stehen Entwicklern zur freien Verfügung. Unter anderem planen diese, den Temperatursensor so zu programmieren, dass er Frauen benachrichtigt, wenn sie ihren Eisprung haben. Oder Eltern eine SMS schickt, wenn ihr Kind Fieber bekommt.
JETZT
Das Geschäft mit der Gesundheit ist lukrativ, weil es eine Angst füttert: die Angst vor Krankheit. Laut einer Umfrage googelt jeder zweite Deutsche regelmäßig nach Krankheiten. Und jeder fünfte deutsche Smartphone-Nutzer hat darauf mindestens eine Gesundheitsapp installiert. Manche wirken wie Verstärker. Je länger man liest, desto kränker fühlt man sich: Aus Blähungen wird in Gedanken eine Glutenunverträglichkeit wird ein Reizdarmsyndrom wird eine Leberzirrhose wird Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Google und Apple bieten in ihren Stores insgesamt rund 100 000 verschiedene Gesundheitsapps an. Es gibt Apps, die den Puls oder Blutdruck messen; Apps für Diabetiker, die das Smartphone mit dem Blutzuckermessgerät verbinden; und Apps, die testen, ob Leberflecken zum Melanom mutieren.
Viele Ärzte sind davon nicht gerade begeistert. Es sei gut, wenn sich Patienten mit der eigenen Gesundheit auseinandersetzen, sagt Johannes Schenkel von der Bundesärztekammer. »Aber diese Systeme bieten keine hundertprozentige Sicherheit und ersetzen im Krankheitsfall nicht den Arztbesuch.« Außerdem wisse der Nutzer oft nicht, wer hinter den Apps steckt und was mit seinen Daten passiert.
Die goderma GmbH aus Berlin hat eine App entwickelt, die Hautausschlag fotografiert und das Foto an einen Dermatologen schickt. Maximal48 Stunden später erhält man die Diagnose.
Der Landesärztekammer gefiel das nicht. Sie ermahnte zwei Ärzte, die mit der goderma GmbH zusammenarbeiteten. Sie würden gegen das Fernbehandlungsverbot verstoßen. Es verbietet Ärzten, eine Diagnose zu treffen, ohne den Patienten gesehen zu haben. Ist das noch zeitgemäß?
Carl Wunderlich unterrichtete Mitte des 19. Jahrhunderts Medizin an der Universität Leipzig. Er war der erste Arzt, der das Fieberthermometer in einem Krankenhaus einsetzte. Jeder Patient, der in das St. Jacobs-Hospital kam, musste Wunderlichs Fieberthermometer 20 Minuten lang unter den Arm halten. Es war 25 Zentimeter lang und am oberen Ende mit einem Gipsstopfen verschlossen. Kritiker fanden, das sei »unergiebiges Gefummel« und sehe aus, als würde man sich ein Gewehr unter den Arm klemmen. Wunderlich glaubte daran. 25 Jahre später war das Fieberthermometer das meistverkaufte Hilfsmittel zur Selbstdiagnose.
Prognose
Patrick Soon-Shiong ist Mediziner und Milliardär, einer der reichsten Männer der USA. Gelähmte zum Laufen bringen, Blinde zum Sehen – warum eigentlich nicht?
1. Soon-Shiong gehört die Firma Vitality, sie ist berühmt für ihre Glow Caps. Das sind Pillendosen, die sich mit dem Internet verbinden. Sie schicken eine SMS oder rufen an, wenn man vergisst, seine Tabletten zu nehmen. Und sie können Nachschub in der Apotheke bestellen.
2. Soon-Shiong hat die App »LookTel Recognizer« entwickelt. Sie hilft Blinden, ihre Umwelt wahrzunehmen. Man muss nur die Handykamera auf einen Buchtitel richten, und die App liest den Titel vor. Dasselbe funktioniert mit Geldscheinen oder Fotos von bekannten Persönlichkeiten.
3.Soon-Shiongs größter Traum: Er will eine Kappe mit Bewegungssensoren entwickeln, die Hirnströme liest und an ein Exoskelett sendet, also an ein künstliches Skelett, das den Körper von außen stützt. Damit sollen Gelähmte wieder laufen können.
Illustration: Yann Kebbi