Most have

Man nennt ihn sauren Most, Viez oder Ebbelwoi. Mit seiner verführerischen Süße sorgt der Apfelwein für paradiesische Benommenheit – oder für tierische Schmerzen.

Foto: Maurizio Di Iorio

Der Ort, an dem ich lernte, was eine ordentliche Gesichtsbremse ist, war ein geschotterter Feldweg zwanzig Kilometer südöstlich von Hanau, in Spuckweite zum Main. Es war im Sommer, bevor ich Abitur machen sollte, an einem Landkreisgymnasium bei Aschaffenburg. Es gab nicht viele Läden, in denen wir uns für wenig Geld den Kopf abschrauben konnten, und hey, wir hatten Abschraubbedarf, denn unser Leben lief in rasanter Geschwindigkeit auf Prüfungen zu. Tagsüber taten wir, als wären uns die Prüfungen egal, wir waren zu cool, zu politisch, zu antifaschistisch, aber natürlich ging uns der Arsch auf Grundeis, weil: ohne Abitur kein abgebrochenes Philosophiestudium. Und wir wollten doch was erreichen im Leben!

Demzufolge war unser permanentes Tagesendziel, kopflos beziehungsweise gehirnlos durch die Gegend zu laufen, okay, grundsätzliche Versagensängste wegzutrinken, ja, es war auch ziemlich 1989. Und wir hatten halt nicht so viel Geld. Also fuhren wir nachmittags mit den Rädern am Main entlang, bis zu diesem Wald-und-Wiesen-Wirtshaus, dem »Heißerackerhof«. Es gab dort eine sehr eingeschränkte Speisekarte. Man konnte zwischen Schmalzbrot und Eiern mit Speck wählen. Die Wirtin hieß Olga und war sehr unfreundlich, aber das war gut, denn im Gegensatz zu hochklassigen Apfelweinkneipen, in denen man zur Tür rausgetreten wurde, wenn man »Einen Süßgespritzten, bitte« sagte, waren Olga ihre Gäste so egal, dass sie den Ebbelwoi auch mit Sprite oder sogar mit Fanta servierte.

Total super für eine Horde 17-Jähriger, die natürlich sehr gern süßen Alkohol zu sich nehmen wollte. Wir bestellten den Apfelwein nicht in Gläsern, wir bestellten gleich Vier-Liter-Bembel, dazu flaschenweise Limonade. Und dann passierten diese Dinge. Als hätten wir ver­botene Drogen genommen.

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Erst Gelächter. Dann aus dem Ruder laufendes Gelächter. Köpfe nach hinten, Köpfe auf dem Tisch, Köpfe unter dem Tisch. Die Klarheit, die einen bei jedem anderen Rausch momentweise flutet, gibt es unter dem Einfluss vergorener Äpfel nicht. Vielmehr: paradiesische Benommenheit, beste Schlagseite der Welt. Man fühlt sich so schwer und so leicht zugleich, als hätte jemand sehr viele weiche Decken über einen geworfen, der Körper rebelliert mit aller Kraft gegen den Zustand, in dem er versenkt wurde, und feiert ihn doch ausschweifend, es ist, als hätte man Husaren im Kopf, die auf dicken Fässern reiten, und gäbe es das Wort »sternhagelvoll« nicht, müsste es für den Apfelweinrausch erfunden werden.

Gegen 19.30 Uhr waren wir üblicherweise voll wie die Raketen, und dann schmiss uns Olga auch recht schnell raus, vermutlich weil wir einfach zu laut wurden. Wir fanden irgendwie die Tür und auch unsere Fahrräder, dann ritten wir in den Sonnenuntergang, zehn bis zwölf Halbstarke mit glattem Durchschuss im Gehirn und verschobenem Schatten, der verwirrt vor sich hin redete.

Als mein Freund Oliver mir etwas sagen wollte, zog er im Satz seinen Lenker zu meinem Lenker rüber, unsere Räder verhakten sich, wir verhakten uns, und dann fiel ich mit dem Gesicht zuerst auf den Schotter.

Es traf die ganze verdammte linke Seite. Stirn, Schläfe, Wangenknochen, Nase, Lippen, Kinn. Eine gute Woche lang sah ich aus wie der ehemalige Bezirksstaatsanwalt Harvey Dent, es nässte, es verschorfte, es blätterte ab, und ich verhielt mich auch wie die böse Seite von Two-Face. Fragte mich in der Schule jemand, was um Himmels willen passiert sei, fauchte ich nur unverständliches Zeug, weil es so weh tat, den Mund zu bewegen.

Stattdessen antwortete Oliver für mich: »Na ja, Schtöffsche gehabt halt.«