Das Gegenteil von Craftbeer

Der Vater unserer Autorin trank schon immer am liebsten das günstige Henninger Bier aus Frankfurt. Früher war ihr das unangenehm, heute zelebriert sie damit ihre Herkunft als Arbeiterkind.

Foto: Erli Grünzweil

Mein Vater hatte schon immer einen gottlosen Humor, nichts war ihm je heilig. Als ich 1972 zur Welt kam, verschickte er die Geburtsanzeige, ein Schwarz-Weiß-Bild von mir in Säuglings­sta­tionszwirn, auf dem ich ganz offensichtlich den Laden zusammenbrülle, und unter dem Foto stand: »Ich bin Simone und ich habe einen Zug wie Henningers Ochsen.«

Mit der leicht schiefen ­Wer­bekampagne fürs billige Frankfurter Henninger Bier wollte ­er natürlich nur sein Glück be­kunden, ein gesundes, lautes, hungriges Kind bekommen zu ­haben. Früher war mir die Karte peinlich. Inzwischen finde ich das vergilbte Papier sensatio-nell, ­­es ist wirklich das perfekte historische Dokument meiner Herkunft.

Ganz lange im Leben weiß man ja nicht, zu welcher Klasse man gehört. Mein Sohn zum Beispiel wächst auf St. Pauli auf, und deshalb weiß er zwar schon immer, dass es viele Leute gibt, die ärmer sind als wir, die entweder von Sozialhilfe leben oder nicht mal ein Dach über dem Kopf ­haben, aber er weiß nicht, was hinter der Fassade unserer gemütlichen, unrenovierten und leicht bröckeligen Altbauwohnung versteckt liegt – dass wir uns nämlich nie eine andere Wohnung leisten könnten, weil der Mietvertrag nun mal zwanzig Jahre alt ist. Dass vieles in der Wohnung nur deshalb so charmant altmodisch ist, das Bad, die Steckdosen, die zusammengestolperte Küche, weil sich unsere Vermieter, eine sogenannte »Erbengemeinschaft«, in erster Linie für ­die Miete interessieren und nicht so sehr für die ­Mieter. Er denkt wahrscheinlich, dass ­seine Mutter so viel arbeitet, weil ihre Arbeit ein wichtiger Teil ihrer Persönlichkeit ist, und nicht, weil sie in permanenter Angst lebt, dass eines Tages kein Geld mehr da sein könnte. Dass es zumindest von meiner Seite nichts zu erben geben wird, denn das Haus meiner Eltern ist und bleibt ihre Alters­vorsorge, ich selbst habe: haha.

Meistgelesen diese Woche:

Aber im September vorigen Jahres dämmerte ihm was. Er machte ein Praktikum in einer Zimmerei, die sich vornehmlich um Renovierungen in Hamburger Häusern mit Alsterblick und Wasserzugang und Kokain zum Frühstück kümmert. Er machte sich lustig über die kaputten Reichen, aber das offensichtliche Privileg dieser Leute verstörte ihn doch gewaltig: »Die arbeiten gar nicht.«

Leute, die ihr Leben lang nicht arbeiten müssen, habe ich noch nie aus der Nähe gesehen, aber ich erinnere mich gut an meine Stu­dienzeit, einmal war ich zu Besuch bei einem Freund, dessen Vater ein großes Unternehmen führte, hinter der Haustür lagen ein Marmor-Entree und sehr viele Zimmer, und während ich die Nächte durchkellnerte, machte der Freund einen fantastischen Abschluss, es folgte eine glänzende Karriere, einen Studentenjob hatte er nie.

Meine Eltern sind mit mir in unser Haus im Spessart gezogen, als ich acht war, wir mussten aus der Mietwohnung raus, ich fand es so lustig, dass das Haus noch keine Fenster hatte, sondern Plastikplanen, auf Kanthölzer gespannt. Erst Jahre später habe ich begriffen, warum das so war.

Ich bin die Erste in meiner Familie, die Abitur hat, ich bin die Erste, die auf der Universität war. Mein Vater war ein sehr kluger Junge, aber nach dem Hauptschulabschluss musste er arbeiten, wurde Drucker und hat sein Leben lang viel gelesen. Meine Mutter war ein vielleicht noch klügeres Mädchen, aber nach der Mittleren Reife musste sie arbeiten, und sie tut es immer noch, mit inzwischen 85 Jahren, weil Arbeit eben zum Leben gehört.

Ich habe einen Zug wie Henningers Ochsen. Denn ich weiß, wenn ich aufhöre, den zu haben, könnte alles schnell ganz schön schal schmecken. Keine Schaumkronen mehr, nirgends. Ich mag kein Craftbeer. Ich mag Arbeiterbier, un­renoviert und ein bisschen dünn im Abgang, aber mit Zug.