Hör mal, ich muss pinkeln, kommst du mit?

Warum ist es für Frauen so heikel zu sagen, dass sie mal aufs Klo müssen? Unsere Autorin hat da einen sehr befreienden Moment erlebt.

Foto: Erli Grünzweil

Lange Zeit dachte ich ja, ich sei die ­einzige Frau, die auch mal offiziell pinkeln muss, gesellschaftlich und strukturell anerkannt, weil in keinem der ­Filme, die ich je gesehen hatte, Frauen ganz in Ruhe auf die Toilette gingen. Also einfach so, ohne dass im ­sicheren Örtchen dringend was besprochen werden musste (Highschool-, Hochzeitsfilme) oder geraucht (kurdische Hochzeitsfilme) oder mit einer Freundin geweint (Filme über das echte Leben). Ich wusste natürlich, dass Frauen pinkeln müssen, meine Mutter musste oft sehr dringend (»Huch, jetzt aber ganz schnell!«), ich kannte nach der Schule immer nur die allerletzte Ausfahrt Gästeklo gleich hinter der Haustür (»BAHN FREI, VERDAMMT NOCH MAL«), und wenn meine Freundinnen und ich uns gemeinsam in irgendeinem Bad für eine geile Party schön machten, war jedes Mal eine dabei, die das Wasser nicht mehr halten konnte (»Sorry, ich muss mal«).

Ich erinnere mich an eine Spätsommernacht in einem Kornfeld, ich war mit dem Typen zugange, in den ich seit der achten Klasse verknallt war, und oh mein Gott, ich musste so nötig in einem Busch verschwinden, meine Blase war kurz davor zu ex­plodieren, und meine Regel hatte ich auch noch, der Busch wäre also doch nicht die optimale Lösung gewesen, ich brauchte eine Toilette. Aber ich brachte es nicht fertig zu sagen: »Entschuldige mich bitte, ich muss für zehn Minuten weg, ich muss wie jeder normale Mensch mal aufs Klo, und meinen Tampon müsste ich auch wechseln, also bleib einfach hier, warte auf mich, schau dir die Sterne an, ich bin gleich wieder da.« Statt­dessen stand ich wortlos auf und rannte weg. Jahre später gestand er mir, dass ihn das sehr verletzt hat.

Aber dann kam Elisabeth Shue. Es war in Leaving Las Vegas, diesem sehr traurigen Film über eine zum Tod verurteilte Liebe, und ein Millionenpublikum konnte ihr dabei zusehen, wie sie sich auf ein Klo setzte, pinkelte, dabei weiter mit dem Mann redete, in den sie verliebt war, und dann nahm sie sich zwei Blättchen Papier und putzte sich ab. Ich saß mit offenem Mund im Kino, neben einem Mann, in den ich verliebt war. Es gab viel zu reden und nachzudenken über diesen Film, aber das Größte für mich war und ist dieser unvorstellbar entlastende Moment. Eine Frau, die Heldin der Geschichte, MUSS MAL AUFS KLO, und es wird nicht verschämt darüber hinwegerzählt, sondern es wird GEZEIGT, ist einfach so Teil eines Dialogs. Elisabeth Shue hat in diesen Minuten nicht nur ihre Filmfigur zutiefst mit der Figur ihres Partners Nicolas Cage verbunden, sondern auch alle Frauen der Welt miteinander. Eine Riesenbefreiung.

Meistgelesen diese Woche:

Er versteht einfach, was es heißt, der Mensch zu sein, der ich bin

Seitdem sage ich fröhlich zu allen und in allen Situationen, wo genau ich hingehe, wenn ich mal wo hingehe, ich nehme sogar männliche Freunde am Telefon mit auf die Toilette – mit einem Freund, er wohnt auf der anderen Seite des Atlantiks, habe ich manchmal diese sehr langen Gespräche mitten in der Nacht, da geht einiges die Trinkleitung ­runter, und das muss halt auch wieder raus, wie alles, wovon wir an dieser Stelle seit Jahren erzählen. Da sage ich also: »Hör mal, ich muss pinkeln, kommst du mit?« Er, kichernd: »Klar.«

Es hat uns auf eine Art zusammengeschweißt, die dazu führt, dass ich die krassesten Momente meines Lebens mit ihm teilen kann, ohne dass ich sie großartig erklären muss, er versteht einfach, was es heißt, der Mensch zu sein, der ich bin. Er nimmt mich in den Arm, sollte ich das brauchen, weiß aber auch, dass ich oft etwas anderes brauche, und deshalb behandelt er mich in den meisten Fällen wie eine Mischung aus kleiner Schwester und streunender Katze, die, wohin sie ihre Spaziergänge auch treiben, erst mal sehr offensiv ihr Revier markiert.