Am schwierigsten finde ich diesen Moment im Jahr, an dem klar ist, dass alles auf den Winter zuläuft. Das kann schon Ende September sein oder erst Anfang Dezember, aber es ist immer so eine Art mentaler Kipppunkt. Die Gewissheit, dass es ab jetzt nur noch kälter, grauer und deprimierender wird und man gute Reserven braucht, um die kommenden Monate zu überstehen. Dieser Winter ist besonders angstbehaftet. Überall ist von Krise die Rede und davon, wie teuer und schwierig alles wird. Manche Leute fragen sich inzwischen sogar, ob sie im Winter überhaupt noch duschen und heizen können.
Ich habe natürlich keine Ahnung, wie berechtigt diese Angst ist. Aber ich kenne zumindest eine der Theorien, wie der Körper physiologisch auf Stress reagiert. Mit flight, fight oder freeze nämlich, man flüchtet, kämpft oder erstarrt. Ich habe in meinem Leben mit flight und freeze die besten Erfahrungen gemacht. Wenn ich Stress auf mich zukommen sehe, versuche ich, ihm auszuweichen oder die Sache irgendwie auszusitzen.
Was den Winter betrifft, habe ich mir angewöhnt, jedes Jahr vor dem Kipppunkt-Moment noch einmal wegzufahren, irgendwohin ins Warme. Um woanders zu sein und mir vorzumachen, dass der Sommer gar nicht zu Ende ist. Am liebsten bin ich dann in Italien. Der Herbst dort ist ohnehin schon eine tolle Zeit. Die Hochsaison ist zu Ende, und ich habe als Touristin das Gefühl, in jenem echten Italien unterwegs zu sein, nach dem die Deutschen eine solche Sehnsucht haben. Vor allem aber sind die Strände leer, weil die Menschen in Italien längst in den Wintermodus geschaltet haben. Man ist also in einem doppelten Ausnahmezustand. Man fühlt sich, als hätte man Italien für sich. Und man muss diese Zeit um jeden Preis genießen, denn sie ist ja die mentale Reserve für alles, was danach kommt.
Für mich bedeutet das, dass ich in diesen Tagen in Italien so viel wie möglich sehen, erleben und essen will. Um mir gewissermaßen einen Winterspeck an schönen Gefühlen zuzulegen. Das Getränk, das ich für diesen Zustand gefunden habe, ist Sgroppino, das ist aufgeschlagenes Zitronensorbet mit einem Schuss Wodka drin. Man bekommt es in hohen Gläsern mit Strohhalm serviert, manchmal ist es sehr dickflüssig und süß, manchmal milchig und mit Prosecco oder Limoncello versetzt. Wer das Getränk erfunden hat, ist nicht ganz klar. Es heißt, dass er von venezianischen Adeligen zwischen den Gängen eines opulenten Mahls getrunken wurde, weil Eis als Luxus galt und Zitronen in Italien sowieso immer toll sind.
Wie auch immer, mit einem Sgroppino bekommt man sehr viele Dinge auf einmal. Eis und Alkohol, Süße und Erfrischung, einen Drink, der gleichzeitig ein Dessert ist. Sgroppino enthält alles, was man sich im Alltag lieber versagt, Zucker, Kalorien, hochprozentigen Alkohol. Mit einem Glas Sgroppino kann man viel Leben auf einmal herunterschlingen, er ist eine Flucht ins Süße und Gefrorene, die ideale Variante von flight und freeze.