Mitte der Achtzigerjahre wickelten sich Scharen von Teenagern meterweise schmales Lederband um die Handgelenke. Das erinnerte an indianische Pulswärmer und fing nach ein paar Duschen an zu riechen, aber Morten Harket machte das nun mal so, der Frontmann der norwegischen Popgruppe a-ha, die mit Take On Me über Nacht berühmt geworden war. Auch auf ihr Konto ging der Trend zu zweifelhaften Lederblousons, Norwegerpullovern und Lederwesten über Baumwollleibchen. Die Mädchen trugen derweil Madonnas Dauerwelle mit Haarband und einem einzelnen Kreuzanhänger am Ohr – alles wie auf dem Plattencover von The First Album. Die großen Popstars lieferten nicht nur den Soundtrack, sondern auch die modische Grundausstattung der jeweiligen Jugendkultur. Beim Oasis-Hype Mitte der Neunziger sollen zeitweise ganze Schulklassen in England den gleichen Mod-Vokuhila samt Parka getragen haben wie der Sänger Liam Gallagher.
Das, was Justin Bieber, Taylor Swift oder Rihanna heute am Leib tragen, wird natürlich ebenfalls massenhaft kopiert. Es fällt aber nicht mehr weiter auf. Denn da sind nun viel mehr marketingbewusste Hollywoodstars, Sportler, Models und dazu die Kardashians, die Instagram-Stars und Start-up-Millionäre, an denen sich die Jugend ebenfalls orientiert – kaum ein Begriff wird so inflationär gebraucht wie »Stilikone«, nie waren so viele Bilder im Umlauf. Warum Menschen heute tragen, was sie tragen, lässt sich nicht mehr so leicht einem bestimmten Absender zuordnen.
Die Latte liegt für die Fans außerdem ungleich höher. Der »Starschnitt« in der Bravo war früher immerhin für ein paar Monate aktuell – heute verliert eine Stilvorlage binnen Stunden ihre Gültigkeit. Die Sängerin Rihanna etwa trägt heute Chanel-Lammfellmantel, morgen Bomberjacke zu Jogginghose, zwischendurch ein Dior-Kleid und zum Ausgehen Plüschpantoffeln aus ihrer eigenen Puma-Kollektion. War die ästhetische Grundüberholung früher erst zu jeder neuen Platte fällig, wird heute laufend am Look gearbeitet. Doch je häufiger sich die Auftritte ändern, desto weniger prägen sie einen bestimmten Stil.
Das One-Look-Wonder, den einheitlich gekleideten Popstar, der früher nachweislich eine ziemlich einheitlich gekleidete Jugendkultur inspirierte, gibt es so nicht mehr. Was nicht heißen soll, es interessiere sich keiner mehr dafür, was Popstars tragen. Jeder Auftritt, jeder Zentimeter Stoff oder Nicht-Stoff wird ja akribisch dokumentiert und diskutiert. Häufig sogar mehr als die wie auch immer geartete künstlerische Leistung. Die Mode an sich ist zum eigenen Massenphänomen geworden. Der Popstar spielt darin immer noch eine Rolle – allerdings vor allem die eines Werbeträgers. Von der Führungskraft ist er zum Vorführer geworden, vom Fahrer zum Vehikel.
»Mode ist Pop geworden«, sagte der belgische Designer Raf Simons in einem Interview, kurz bevor er im Oktober überraschend bei Dior aufhörte. Früher sei diese Disziplin elitär gewesen, »jetzt ist High Fashion für alle«. Simons wurde selbst behandelt wie ein Popstar: Die Nachricht seines Rücktritts verbreitete sich rasend über die sozialen Netzwerke. Weltweit äußerten die User Entsetzen, Bedauern sowie Mutmaßungen über die Beweggründe, dann wurden noch einmal die besten Entwürfe des Designers für Dior gepostet und wieder und wieder dieses Bild von seiner letzten Show: der Designer im blauen Hemd, beinahe unsichtbar vor einer Wand aus blauem Rittersporn.
Aber warum ist die Modewelt jetzt selbst so sehr Thema? Nicht nur ihre Trends, sondern auch die Protagonisten und die Modenschauen? »Weil wir plötzlich an etwas teilhaben können, was vorher hermetisch abgeriegelt war«, sagt Valerie Steele, eine der renommiertesten Modehistorikerinnen. Sie leitet das Museum am Fashion Institute of Technology in New York. Schon in den Achtzigern, erklärt Steele, seien Mode und das ganze Drumherum, der Glamour, die schönen Menschen, extrem populär gewesen. Aber wirklichen Einblick hatten immer nur die Insider und das Fachpublikum. »Durch das Internet kann nun die ganze Welt hinter die Kulissen schauen«, sagt Valerie Steele. Modenschauen werden live gestreamt, Marc Jacobs sucht über Facebook seine Models, Designer posten live aus dem Atelier, wahlweise auch live aus ihrem Badezimmer, und zelebrieren die »neue Offenheit« der Mode, wie Olivier Rousteing es nennt, Designer des Labels Balmain.
Diese Entwicklung kann man dafür feiern, dass sie die Mode demokratisiert habe, aber natürlich geht es in der Branche immer noch ums Verkaufen. Die Modeindustrie setzte 2013 weltweit 1,5 Billionen Dollar um. Um dieses Geschäft am Laufen zu halten und wirklich jede individuelle Zielgruppe zu erreichen, spannt sie alle für sich ein: Sportler, Models, Künstler, Schauspieler und natürlich allen voran Musiker. Derzeit ungeschlagen: Rihanna, die kürzlich für Dior in einem Videoclipähnlichen Spot durch das Schloss Versailles stolzieren durfte. An ihr verkaufe sich so ziemlich alles, heißt es. Allerdings darf man bezweifeln, dass sich der damalige Designer Raf Simons auch von ihr für seine Kollektionen inspirieren ließ.
Das ist heute eher historisch der Fall, etwa wenn Dries Van Noten oder Raf Simons den kürzlich verstorbenen David Bowie zitieren. Was der Sänger Ende der Sechziger und in den Siebzigern trug, war allerdings tatsächlich sein eigener Look. Bowie machte sich die Mode zu eigen. Von Markennamen war in den Bildtexten der Lifestylemagazine noch keine Rede. Die Hip-Hopper kidnappten dann die Mode: Sie bedienten sich beim Bling und den Glamour-Labels, die eigentlich nicht für sie gedacht waren, und machten daraus ihren scheinbar ureigenen Stil.
Heute ist die Branche so durchprofessionalisiert wie durchkommerzialisiert. Viele »Lieblings-Labels« der Popstars sind in Wahrheit nur Werbepartner. Justin Bieber trägt seine Calvin-Klein-Unterhosen nicht umsonst in seinen Musikvideos. Aber selbst wenn es keinen offiziellen Deal gibt, wird Hand in Hand gearbeitet. Die Marken schicken die Ware frei Haus oder arbeiten mit den jeweiligen Stylisten zusammen aus, welches das geeignete Teil für den Klienten wäre, damit breit berichtet wird – über das Label und den Künstler. Popstars werden so selbstverständlich mit dem Label genannt, in dem sie gerade stecken, wie Politiker mit ihrer Partei.
Die Rechnung geht fast immer auf. Kürzlich trug Harry Styles, übrigens kein Künstlername, von der Gruppe One Direction bei einem Auftritt einen roten Anzug mit Blumenprint von Gucci. Was die Modeleute auf dem Laufsteg am Model entzückt hatte, wurde via Twitter und Facebook vor allem höhnisch kommentiert: »Harry NO Styles« sehe aus, als trüge er Omas Gardine. Das Konzert? Nebensächlich. Den Gucci-Anzug? Kennt jetzt fast jeder. Schlimmer für beide Seiten wäre gewesen, hätte niemand darüber geredet.
Die Mode hat sich durch die sozialen Medien immer mehr zur Entertainment-Industrie gewandelt. Und der Stoff, den sie liefert, besteht längst nicht mehr nur aus Kleidern. Modenschauen werden zu Megaevents stilisiert, wo bei Chanel schon mal ein ganzer Flughafenterminal nachgebaut wird, damit die Fotos von Models und Prominenten in spektakulären Kulissen um die Welt gehen. Die sechs Schauen pro Jahr produzieren fast schon serielle Momente. Laufend werden Künstlerkooperationen initiiert, eigene Museen eröffnet, Veranstaltungen ausgerichtet. Dazu gibt es exklusive Einblicke in das Privatleben von Designern wie Riccardo Tisci von Givenchy – oder von Marc Jacobs Hund. Irgendetwas muss schließlich vermeldet werden, damit man im Gespräch bleibt. Die in den sozialen Netzwerken populärsten Models, Kendall Jenner und Gigi Hadid, bekommen von Modelabels angeblich mehr als 125 000 Dollar für jedes Bild, damit sie sich in ihren Sachen posten. Offensichtlich lohnt es sich: Wenn die beiden nur die Augenbraue heben, ist das ihren Fans schon mehrere Hundert Likes wert.
»Diese Welt spricht längst nicht mehr nur Leute an, die sich mit Mode auskennen«, sagt die Historikerin Valerie Steele. »Wer Sportveranstaltungen verfolgt, treibt ja auch nicht zwangsläufig selbst Sport.« Das erkläre auch den Erfolg von Ausstellungen, die sich mit dem Thema Mode befassen. »Alexander McQueen: Savage Beauty« im Metropolitan Museum of Art in New York von 2011 war mit 660 000 Besuchern eine der erfolgreichsten Schauen des Hauses. Dem Online-Magazin Artnet zufolge sind Modeausstellungen bereits erfolgreicher als Kunstausstellungen. »Der Zugang ist einfacher«, sagt Steele: Bei Kunst müsse man sich einigermaßen in der Kunstgeschichte auskennen. Bei Mode hätten viele immerhin die gezeigten Kleider schon mal irgendwo oder an irgendwem gesehen. Der vielleicht wichtigste Unterschied allerdings sei: »Nicht jeder lebt mit Kunst, aber jeder lebt mit Mode.«
Unser Verhältnis zu Kleidung hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren ebenfalls grundlegend verändert – mit dem flächendeckenden Einzug von H & M und Zara und anderen »Fast Fashion«-Konzernen. Waren die Trends vom Laufsteg früher nur einem kleinen Kreis von Menschen vorbehalten, kann sich mit den günstigen Kopien nun jeder danach anziehen. Die teilweise täglich neu eintreffende Ware hat aus dem saisonalen Produkt eines des täglichen Bedarfs gemacht. Der Streifzug durch die Boutiquen auf der Suche nach »Frischware« ist für manche zur Alltagsbeschäftigung geworden. Durch die veränderte Erwartungshaltung befinden sich plötzlich auch »High Fashion«-Marken wie Dior im Wettstreit darum, immer schneller immer mehr Looks zu produzieren. Raf Simons beklagte in besagtem Interview, für die Branche sei es vielleicht besser gewesen, als die »High Fashion« noch nicht für jedermann war. Vieles von dem, was die Mode mittlerweile produziert, ist triviale Massenunterhaltung. Keine hohe Schnittkunst, sondern einfach konsumierbare Ware mit plakativen Mustern und Applikationen, die ihre Wirkung nicht erst beim Tragen, sondern in briefmarkengroßen Bildern auf Instagram entfalten.
In diesem System wären Popstars mit nur einem Look unsichtbar. Und kein gutes Geschäft. In den Neunzigern trug Madonna auf ihrer Blond Ambition-Tour noch exklusiv Jean Paul Gaultier – und das war eher ein Freundschaftsdienst als ein Millionendeal. Heute wird sie auf ihrer Rebel Heart-Tour von gleich drei Labels ausgestattet. Außer Gucci und Alexander Wang trägt sie auch Moschino, ein Label, das bis vor einigen Saisons eher vor sich hin dümpelte. Dann wurde der Amerikaner Jeremy Scott als Creative Director geholt, der sicherlich nicht einer der größten Couturiers, in jeder Hinsicht jedoch einer der populärsten ist. Seine aktuellen Moschino-Kollektionen machen vor allem deshalb Wirbel, weil sie mit Motiven der Alltagskultur spielen. Nach Taschen, die an Pommestüten erinnern, und einer quietschrosa Barbie-Kollektion zeigte er für nächstes Frühjahr Kleider, die wie Waschanlagenmopps aussehen, Kostüme mit Absperrband-Rand und T-Shirts mit »Shop!«- statt Stopp-Schild. Die Sängerin Katy Perry trug kürzlich eine Moschino-Robe mit großflächigen Comic-Sprechblasen-Print. Kleider, die wie Pop-Art funktionieren sollen.
Wie sehr Mode inzwischen zum Massenspektakel taugt, zeigt auch die aktuelle Überlegung, die New York Fashion Week nicht mehr länger nur dem Fachpublikum, sondern auch den eigentlichen Kunden zu öffnen. Die französische Marke Givenchy hatte im September für Aufsehen gesorgt, als für die Show in New York rund 1200 Tickets über das Internet an »normales Publikum« ausgegeben wurden. Bei Marc Jacobs durften Schaulustige zumindest einen Teil der Show draußen auf Leinwänden mitverfolgen. Schon prophezeien Experten, demnächst würden Modenschauen zu öffentlichen Riesenspektakeln, mit Eintrittskarten, wie man sie auch für Konzerte kaufen kann. Da darf dann als Vorgruppe bestimmt ein Popstar auftreten.
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