Nicht immer nur das alte Lied

Die Sopranistin Christine Schäfer würde die Klassikwelt gern umkrempeln – mehr Pop, mehr Experiment, mehr Vielfalt. Sagen wir so: Es gibt leichtere Aufgaben.


Inszenierung einer Operndiva: Die Sopranistin Christine Schäfer hat ein Album mit Opernarien aufgenommen und zeigt sich auf den Fotos für ihre Verhältnisse ungewöhnlich aufgedonnert.

Singen öffnet das Herz. Und wenn jemand so unbändig anrührend singt vom Sturm, vom Schnee und den gefrorenen Tränen wie Christine Schäfer in Franz Schuberts Winterreise, muss man aufpassen, dass es einen nicht zerreißt. Auch wenn man bis dahin kein Liebhaber des klassischen Liedes war.

Christine Schäfers Stimme ist leicht, zart, voller Spannung. Und ihre Erscheinung passt zur Stimme. Sie ist klein, lebendig, ungeschminkt, und sie wirkt viel jünger als 46. Es ist Mittagszeit, sie hat eine kleine Tagesbar in Berlin-Mitte für ein Treffen vorgeschlagen, schräg gegenüber ihrer Wohnung. Sie kommt in herbstlicher Weste und hohen Stiefeln, trägt Beige, was man als Statement betrachten könnte. Denn auch wenn Christine Schäfer zu den weltbesten Sopranistinnen zählt, ist es nicht ihr Stil aufzufallen. Sie ist das Gegenteil einer Operndiva.

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Tatsächlich ist sie, jenseits der Klassikszene, nahezu unbekannt, im Gegensatz beispielsweise zu einer Sopranistin wie Anna Netrebko. Doch die Kritiker machten Schäfer 2006 zur »Sängerin des Jahres«, nachdem sie mit Netrebko in Mozarts Oper Die Hochzeit des Figaro gesungen hatte, Christine Schäfer den Cherubino, Netrebko die Susanna.

Nun hat sie eine CD mit Opernarien aufgenommen, singt zurzeit in Berlin die Violetta in La Traviata, wird seit zwanzig Jahren an die großen, die internationalen Opernbühnen geholt, arbeitet mit Dirigenten wie Claudio Abbado, Pierre Boulez, Nikolaus Harnoncourt, Sir Simon Rattle, James Levine – und so oft schon ist sie im Sommer in Salzburg aufgetreten, dass die Festspiele ohne sie gar nicht denkbar wären.

Aber Christine Schäfer verträgt den Rummel nicht, nach einer Vorstellung will sie Ruhe haben, eine Stunde, bis sie wieder ansprechbar ist. Über ihr Privatleben schweigt sie und erzählt viel lieber, dass es ihr Traum wäre, mit der intellektuellen Alternative-Rock-Band Radiohead Musik zu machen: »Pop und Klassik müssten viel mehr verschmelzen« sagt sie, »aber die Welt der Klassik ist leider nicht offen, auf der Seite des Pop passiert da mehr.«

Sie bestellt ein Sandwich, scharfe Salami und Rucola, sie ist ausgehungert, »ich habe beide Essensschienen verpasst heute«. Das Lachen kommt aus der Kehle, ein vertontes Schmunzeln. Weiche Stimme, fließende Bewegungen, fester Blick aus dem kleinen, kecken Gesicht, über das manchmal ein halb ironisches Lächeln fliegt. Für ihre ostentative Hinwendung zur Pop- und Subkultur ist sie von der Kritik schon hart abgestraft worden: Sie tummle sich da in einer Kunstecke, die auch zur Zelle werden könnte – ob sie da wohl noch den Weg zurückfinde?

Doch es gibt keinen Weg zurück für sie. Christine Schäfer hat eine Mission: Sie tritt ein für Freiheit und Vielfalt im Gesang. Die Orchester spielen so laut heute, sagt sie, dass man sich als Sängerin an die Rampe stellen und brüllen und ziemlich auf die Tube drücken muss, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Also tritt sie ein für eine leisere Welt, so sagt sie es, in der auch weniger opulente, leichte Stimmen gehört werden. Und sie tritt ein für die strenge Textinterpretation, die ihr mehr bedeutet als die großen Gefühle. »Wenn man die Augen schließt und zuhört und versteht, ist mir das lieber, als wenn einer vorn die Arme ausbreitet, die hohen Töne rausschmettert, und alles klingt gleich.« Auch diese Haltung ist ihr schon verübelt worden, »Kühlschrank« hat man sie genannt. »Es kommt nicht bei allen gut an, dass ich auf der Bühne nicht den großen Rabatz mache«, sagt sie. »Aber es gibt ja auch Leute, die auf Hansi Hinterseer stehen und nicht auf Radiohead.«

Christine Schäfer wurde 1965 in Frankfurt geboren, Ihre Familie waren alteingesessene Metzger. Ihre Mutter war Sängerin im Chor, sie selbst interessierte sich schon in ihrer Jugend für moderne Opernkompositionen, lernte Cello und Klavier, war zu faul, um mit einem Instrument richtig gut zu werden. Aber die Musik sollte es sein. Vor dem Abitur brach sie die Schule ab und ging nach Berlin, um Gesang zu studieren. 1988 gab sie mit der Uraufführung von Aribert Reimanns Nacht-Räume bei den Berliner Festwochen ihr Debüt, den internationalen Durchbruch hatte sie 1995 bei den Salzburger Festspielen mit Alban Bergs Lulu.

Das Album Arias, das in diesen Tagen erscheint, ist nun ein Querschnitt dessen, was sie bisher an der Oper gemacht hat, und ein bisschen mehr: »Ich singe auch Arien, die ich auf der Bühne nie singen würde, wie die der Desdemona im Otello.« Die Idee dazu, ihre Lieblingsarien aufzunehmen, hatte sie schon lange, fand es aber ohne Plattenfirma schwierig, alles auf die Beine zu stellen: einen Dirigenten, ein ganzes Orchester, den Aufnahmesaal. Ihre alte Plattenfirma, die Deutsche Grammophon, hatte sie vor ein paar Jahren kurzerhand verlassen – man wollte sie auf Linie bringen und erwartete PR-Auftritte. Danach produzierte Christine Schäfer Alben wie Winterreise selbst, das war aufwendig und riskant, aber wenigstens konnte sie machen, was sie wollte.

Vor Kurzem dann signalisierte Sony Interesse. Und die Plattenfirma ließ sie gewähren, sodass sie nun ein Album produziert hat, wie sonst Popbands Platten machen: Sie hat ihr Ding durchgezogen, wieder in ihrem Lieblingsstudio in Berlin, in dem sie sich unter 15 alten Röhrenmikrofonen das passende aussuchen kann, »das finde ich wichtig«. Und natürlich singt sie die Arien auf ihre Art: zurückgenommen, nicht nach außen gekehrt. »Gerade im italienischen Fach steht mir der Sänger zu sehr im Vordergrund, es zählt nicht das, was wirklich in den Noten steht. Da bin ich relativ puristisch, das wollte ich ein bisschen von meiner Seite aus beleuchten«, sagt sie, und da ist es wieder, das leise, ironische Lächeln.

Wie sie die Dinge beleuchtet, kann man auch sehr gut beim Unterricht in ihrer Meisterklasse beobachten, die sie in diesem Jahr zum ersten Mal an der Hochschule für Musik in Berlin leitet. Zehn junge Sänger und Sängerinnen sind hier, am Gendarmenmarkt, zusammengekommen, um alte Lieder zu singen, Brahms, Schubert, Schumann, Mendelssohn. Und es ist beinahe unglaublich, wie anders ein Lied klingt, nachdem Schäfer ihre zwei, drei Anmerkungen zu den Sängern gemacht hat: Was leise und was laut gesungen werden soll, wo mehr Tempo reinmuss, wo weniger Stimme, wo der Gesang trockener, wo er neckischer sein soll. »Sie müssen fühlen, dass der Frühling kommt«, sagt sie. Oder: »Den Schnee und den Wind ruhig angeberischer singen, dann klingt es bedrohlicher.«

»Die Musik hat mich getragen«

In natura sieht Christine Schäfer so aus wie auf diesem Bild. Sie singt gern morgens unter der Dusche, aber niemals im Auto – da stimmt die Akustik nicht.

Die Schüler sollen sich die Geschichten erzählen, die Grammatik der Texte verstehen, die Dramatik der gerollten R voll ausnutzen, die Stimme vor der Brust tragen, »dann hat sie viel mehr Glanz«. Der Sänger muss entscheiden, welche Gefühle ein Lied im Hörer wecken soll, sagt sie. »Sie müssen eine Haltung dem Lied gegenüber haben, sonst geht der Zuschauer nicht mit.« Sie verrät Tricks: »Wenn Sie etwas nicht können, versuchen Sie es nicht! Wenn Sie spannend leise singen, denkt jeder, Sie können laut singen, wollen aber nicht.« Und immer wieder predigt sie ihr Mantra: Weg mit Bausch und Schnörkel, sauber, präzise, ehrlich singen, dann kommen die traurigen oder lustigen oder dramatischen Stellen besser raus. Und man versteht die Texte.

Christine Schäfer, eine leichte Brille auf der Nase, wieder in Beige und ungeschminkt, sitzt mit geradem Rücken auf dem Stuhl, hochkonzentriert. Sie lobt, baut freundlich und warm Kritik ein, ist witzig, schnell, unterhaltsam. »Wie unterschiedlich die Begabungen verteilt sind«, sagt sie später. »Da hat einer eine wunderschöne Stimme, aber sonst passiert nichts. Dann steht eine da, und alle schmelzen dahin, aber man erträgt kaum, wie sie singt.«

Den Schülern legt sie ans Herz, jetzt viel zu üben. Wenn man früh im Leben viel trainiere, habe man eine gute Basis und könne später lässiger sein. Sie selbst singt, wenn sie nicht gerade eine Partitur neu lernt, eine Stunde am Tag, mehr nicht. Und wenn sie, wie jetzt, die Violetta singt, macht sie keinen Pieps zwischendurch, denn die Stimme, im Unterschied zum Instrument, nutzt sich ab.

Christine Schäfer sagt, sie selbst verbessere sich heute immer noch. Doch sie muss feststellen, dass jüngere Sänger jetzt begehrter sind an der Oper. »Man muss etwas Besonderes machen in meinem Alter. Das, was ich jetzt zu sagen habe, muss sich unterscheiden von dem, was ich früher zu sagen hatte. Daran arbeite ich gerade. Denn die Zeit zwischen 35 und 50 ist für eine Sängerin die schwierigste. Wenn ich mich jetzt zurückziehen würde, käme ich nie wieder hoch.«

Mit ihrem inzwischen verstorbenen Lebensgefährten, dem Filmregisseur Oliver Herrmann, hat sie um die Jahrtausendwende etwas Besonderes gemacht: experimentelle, leicht surreale Musikfilme. Die Dichterliebe nach Robert Schumann zum Beispiel. Im Film sieht man, wie Christine Schäfer in einer Bar steht und die Lieder aus dem Zyklus singt, die wie die Winterreise auch die Sicht eines Mannes schildern. Zuerst wirkt sie sehr androgyn dabei, dann wird sie immer sehnsüchtiger und lasziver. Dazwischengeschnitten ist ein Making-of, die Filmcrew isst, redet und dreht, es geht um Liebe und Eifersucht, die Ebenen fließen ineinander. Da sieht man ihn, den Mann, und man sieht, was zwischen ihnen beiden ist. Die Chemie, die stimmt.

Eigentlich guckt sie sich den Film nicht an, doch neulich hat sie ihn mal den beiden gemeinsamen Töchtern gezeigt. Sie fanden ihn sturzlangweilig. Mit dem Vater und seinem Tod gehen sie alle mittlerweile gelassen um. »Die Bude steht nicht voll mit Fotos. Ist nicht so, dass wir jeden Abend beten für ihn.«

Am Tag, als Oliver Herrmann 2003 überraschend an einem Zuckerschock starb, war Christine Schäfer unterwegs, gab einen Liederabend in einer anderen Stadt und hatte die beiden Kinder dabei. Sie hat dann drei Monate Pause gemacht, getrauert, konnte keine Musik hören, nur selbst singen ging gut. »Da habe ich wahnsinnig viel gesungen. Die Musik hat mich getragen.«

Christine Schäfer ist nun allein erziehende Mutter. Neun und elf sind die Töchter, die eine ist ganz groß, die andere ganz klein, lange dunkle Haare haben beide und auf den ersten Blick nicht so viel Ähnlichkeit mit der Mutter, mehr mit dem Vater. Bis sie in die Schule kamen, hat sie sie oft mitgenommen, zum Beispiel nach Paris, als sie mit Gerard Mortier an der Pariser Oper arbeitete. Jetzt sind die Mädchen auf einer internationalen Schule in Berlin, betreut vom Kindermädchen, das eine volle Stelle hat bei Christine Schäfer und sie praktischerweise auf dem Laufenden hält, was Popmusik betrifft. Die englische Band Psapp findet sie gut. Mit ihren Töchtern muss sie sehr viel Lady Gaga und Katy Perry hören, »Rihanna finde ich ja noch ganz gut«.

Jedes Wochenende fliegt die Mutter heim, wenn sie in einer anderen Stadt singt, um bei ihren Kindern zu sein, bei den Hausaufgaben zu helfen, das Frühstück zu machen, Normalität zu leben. Das wäre natürlich nicht so, wenn die Töchter mit einem Vater zu Hause wären. Am liebsten ist es ihr daher, in Berlin zu singen. Oder für ein, zwei Liederabende irgendwo hinzufliegen. Wochenlange Opern-Engagements sagt sie häufig ab, seit die Kinder in der Schule sind.

Gerade war Christine Schäfer ein paar Wochen mit den beiden am Stück zu Hause, endlich Alltag, Ruhe. In der Zeit kam zwar kein Geld rein, aber das Konto wurde auch nicht leerer, wie sonst wegen der vielen Wochenendflüge. Finanziell geht es ihr am besten, wenn sie selten auftritt, lächelt sie. »Ich kann gut leben von meinem Gesang, aber es kostet mich viel zu arbeiten. Ich ärgere mich schon manchmal über Gesetze wie das Ehegattensplitting, wenn ich diese enorm hohen Steuern bezahle.«

Wenn es geht, fährt sie am Wochenende mit den Töchtern in ein Haus aufs Land, nach Brandenburg. Der Unterschied zwischen dem Morgen und dem Abend, dem Sommer und dem Winter, wann man welche Tiere sieht, all das hat ihren Horizont extrem erweitert, sagt sie. Und jetzt, mit der Färbung der Blätter und Bäume, spürt sie eine wohltuende Nähe zu den klassischen Liedern mit ihren Naturbeschreibungen: »Wie können Leute sagen, diese alten Lieder haben keinen Bezug mehr zu heute?«

Abschlusskonzert der Meisterklasse. Die jungen Sänger haben sich in Schale geworfen und zeigen dem Publikum, wie vielfältig Gesang sein kann. Unfassbar traurig das Winterlied von Felix Mendelssohn Bartholdy, in dem die Mutter vergeblich auf die Rückkehr des Sohnes wartet. Unfassbar gut gelaunt das Brahmslied Wir Schwestern zwei, wir Schönen, das eine dunkelhaarige französische Sopranistin und eine fast weißblonde Finnin mit Altstimme im Duett singen. Unfassbar aber auch, wie zeitlos und poetisch die alten Lieder sind.

Fotos: Bodo Vitus