Der Weg ist das Ziel

Zwei Täler in Südtirol, zwei Arbeiter mit einer Aufgabe, die so schwierig wie unauffällig ist: Sie bereiten den Wanderern die Wege durchs Gebirge. Ein Porträt über zwei Menschen, die gelernt haben, in kleinen Schritten zu denken.

Als Herbert aufsteigt, nimmt er mit, was der Berg von ihm verlangt.

Salamisemmel mit Essiggurke, Trinkflasche. Zweites weißes Unterhemd, zum Wechseln. Steinbohrer. Kettensäge, Marke Stihl, vierziger Schwert. Benzin- und Ölkanister. Klein geschnittene Erdbeeren in der Tupperdose.

Das Werkzeug und die Kanister wird Herbert später hinter einem Fels im Wald vergraben.

Meistgelesen diese Woche:

Lärchenzweige. Almrosen. Tarnung für den aufgewühlten Boden.

Jetzt, an einem schwülen Julitag um sieben Uhr früh, steht Herbert in kurzen, armeegrünen Hosen noch unten im morgenstillen Tal. Mit 25 hat er den Berg zu seinem Beruf gemacht, heute ist er über 50. Seit 26 Jahren baut er im Südtiroler Ahrntal Höhenwege, bessert auf Dreitausendern Geländer und Gatter aus, zimmert Brücken über reißende Gletscherbäche. Im Auftrag des Forstinspektorats Bruneck.

Sechsundzwanzig Jahre. Aber das sagt Herbert nicht. Er sagt: »Sechsundzwanzig Sommer«.

In seinem sechsundzwanzigsten Sommer setzen sich Herberts Wadenmuskeln langsam, fast gemütlich in Bewegung. Wer anfängt, am Berg zu laufen, ist chancenlos. Vor allem, wenn er schwer trägt und oben noch arbeiten soll. Den Steinbohrer hat er sich lässig über die fast schwarz gebrannten Schultern gelegt. Kies knirscht unter seinen massiven Bergstiefeln.

»Halbe Stunde«, sagt Herbert. Ein Spaziergang.

Zur selben Zeit rumpelt Erich in einem alten, beigefarbenen Kombi über die einspurige Forststraße zum Neves-Stausee oberhalb von Lappach, ganz am Ende des Mühlwalder Tals.

Die Straße ist zu Ende, Erich rumpelt weiter. Er scheucht den Kombi auf einen Hügel, auf dem nur noch wenig Gras zwischen den Felsen wächst. Ein Stein kracht dumpf gegen den Unterboden. Erich hält an. Parkt.

Erich schaut nach rechts. Was er sieht, ist ein Meer aus weißem Geröll, das durch Moränen von den Bergen ringsum herabgetragen wurde. Dort, wo jetzt tonnenschwere Felsen liegen, war früher ein Weg. Für Almbauern und für Wanderer, denen die achtstündige Tour zwischen Chemnitzer- und Edelrauthütte zu lang wurde. Aber Moränen nehmen keine Rücksicht auf Wege. Deshalb ist Erich hier. Er deutet nach links, auf den Hang, der das Geröllfeld ähnlich einer hohlen Hand umfängt. Ein winziger, leuchtend roter Bagger klammert sich weit oben tapfer an die fast senkrechte Bergflanke.

»Den haben sie mit dem Hubschrauber hergeflogen«, sagt Erich. Er packt die obligatorische Salamisemmel in seinen Rucksack. Auch Erich steigt auf, etwa 20 Kilometer westlich von Herbert.

Zwei verschiedene Täler, zwei entlegene Baustellen am Berg, zwei Männer, die sich nur flüchtig kennen. Was sie verbindet, ist ihre Aufgabe: Wegbereiter sein. Je nachdem, wie schwierig ein Weg ist, wie viele Felsen durchbrochen, umgangen, umbaut werden müssen, desto schneller oder langsamer geht die Arbeit. Sagt Herbert. Wenn es einer weiß, dann er. Fragt man ihn, wie viele Kilometer er insgesamt gebaut hat, schätzt er: »So 100 in etwa.« Sind die Arbeiter schnell, schaffen sie zu zweit dreißig Meter Strecke an einem Tag. Sind sie langsam, weil der Berg sich sträubt, kommen sie manchmal nur fünf Meter weit.

100 Kilometer. Sogar wenn Herbert zusammen mit einem Kollegen jeden Tag dreißig Meter geschafft hätte, würde das bedeuten: 3333 Tage am Berg. Mit dem Berg. Durch den Berg. Sechsundzwanzig Sommer. Herbert, breites Gesicht, gutmütige blaue Augen, lächelt. »Ja. Das macht man nur einmal im Leben.«

Der Berg sträubt sich an einem Punkt aus roter Lackfarbe.

»Da«, sagt Erich, »wollte die Forstbehörde durch. Das geht aber nicht.«

Die Forstbehörde war im Frühjahr da und hatte genau die Strecke markiert, wo der neue Weg für Almbauern und Wanderer in Zukunft liegen sollte. Wäre Erich dem Vorschlag gefolgt, müsste sich der kleine Bagger mit einem Bohraufsatz jetzt am Steilhang durch meterdicken Felsen graben. Durch den mit der roten Lackfarbe.

Unmöglich.

»Deshalb machen diese Arbeit nur Einheimische«, sagt Erich. »Keiner kennt den Berg besser als wir.« Erich baute zwischen wildem Schnittlauch und Heidekraut kurzerhand eine scharf geschwungene Serpentine, um den Fels zu umgehen. Eigenmächtig. Die Behörde fragen muss er für solche Änderungen nicht. Warten, bis er eine offizielle Erlaubnis aus Bruneck bekäme, würde ihn Tage, vielleicht Wochen kosten.

Zeit, die der Berg nicht gibt. Spätestens im Oktober fällt der erste Schnee, dann ist die Saison für die Arbeiter hoch oben zu Ende. Einmal, erklärt Erich, wurde in der Nähe eine Serie gedreht. Die Fernsehzuschauer sahen entspannte Wanderer; fröhliche Arbeiter, die vor strahlendem Alpenpanorama ein, zwei Holzpflöcke in den Boden schlugen.

»Da haben plötzlich Leute aus Mailand in Bruneck angerufen und gemeint, dass sie das auch gern machen würden – Menschen, die in Büros vor Computern sitzen. Die Kollegen am Telefon haben ihnen erklärt, dass sie dafür aber um halb sechs aufstehen und mit der Spitzhacke auf den Berg gehen müssen. Alle haben aufgelegt.« Erich lacht, an seinem Hals zittert seine Lederkette mit Anhänger, Sternzeichen Schütze. Durch sein kurzes, schwarzes Haar ziehen sich erste weiße Fäden. Erich ist 42. Einen Helfer aus Mailand hatte er nie. Wird ihn nie haben.

Herbert, früher Baggerfahrer, kann auch mit Motorsägen. Beim zweiten Startversuch springt sie mürrisch knatternd an. Der Zaun, der Wanderer auf dem Weg zur Rieserfernerhütte davor bewahrt, in eine Klamm zu stürzen, muss neu gemacht werden.

Ein Höhenweg im Ahrntal besteht nicht immer nur aus Felsen und Wurzeln, auch Zäune und Geländer gehören dazu. Umschneiden, wieder aufbauen, flicken. Herbert sägt und flickt, die Motorsäge röhrt so laut, dass sie das Wasserrauschen aus der Klamm übertönt. Späne wirbeln durch die Luft und setzen sich auf seinen tief gebeugten Nacken.

Herbert hat Wanderern die Wege zu den höchsten Gipfeln erschlossen, Almbauern die Steige für ihr Jungvieh gemauert, sich dafür durch Unmengen an Erde, Stein und Gletschereis gegraben. Nur den Weg geebnet – das hat er nie. Der Berg ist wild, er lässt sich nicht ebnen oder glätten. Deshalb wird Herbert auch nie wirklich fertig.

Ständig ist er damit beschäftigt, nachzubessern. Immer im Frühsommer nimmt er sich zehn Tage Zeit, um jeden Steig in dem 31 Hektar großen Gebiet zu prüfen, für das er zuständig ist.

Steinschlag.
Kaputtes Gatter.
Weg unterspült.
Hagel.

»Am schlimmsten ist Hagel«, sagt Herbert. Wenn es hagelt, verwandeln sich die Gebirgs- und Gletscherflüsse in tosende, furchteinflößende Ströme. Das Wasser ist die mächtigste Gewalt am Berg. Es gibt nichts, was es nicht mitreißt.

Bäume.
Felsen.
Herberts Arbeit.

Vor fünf Jahren, es war ein gewittriger Sommer, hat Herbert dreimal eine Brücke gebaut.
Dreimal dieselbe.

Eigentlich weiß Herbert, dass der Berg ihm immer wieder nimmt, was er versucht, ihm zu geben. »Aber als ich die Brücke das dritte Mal wieder aufgebaut habe … da habe ich auch gedacht, bitte kein viertes Mal.«

Der Bagger ist schlampig.
Er erleichtert den Wegebau und macht ihn schneller. Aber er lässt auch viel Unrat liegen. Kies und raue Gebirgserde, ausgewurzelte Pflanzen. Bliebe der Weg so: Der Berg würde ihn bald zurückfordern.

Der Bagger ist ein Grobmotoriker, Feinschliff macht Erich.

Mit einem alten Eisenrechen arbeitet er in der prallen Sonne hinter dem Bagger her. Erich glättet den Steig, entfernt Steine und Wurzeln. Besonders aufpassen muss er an Stellen, an denen der Weg einen Wasserlauf kreuzt. Dann müssen Erich und der Bagger gemeinsam eine Kuhle bauen, erst ab-, dann aufsteigend. Die breite Rinne soll verhindern, dass der Weg unpassierbar wird, wenn es heftig regnet. Oder hagelt.

»Jetzt kann man sich das gar nicht vorstellen«, sagt Erich und deutet auf ein schmales Rinnsal, das von links über den Weg tröpfelt. »Aber das kann sich ganz schnell ändern. Dann traut sich da keiner mehr drüber.«

Zwei große Steine liegen in der Mitte der Kuhle. Damit Wanderer auch bei Regen einigermaßen trocken auf die andere Seite kommen. Ein anderer Arbeiter würde vielleicht mit Holz arbeiten, einen Übertritt aus Brettern zimmern. »Ja«, sagt Erich. »Jeder baut anders.« Er überlegt. »Wegebau ist ähnlich wie Kochen.
Da schmeckt es auch bei jedem anders, obwohl alle dasselbe gelernt haben. Verstehst?«
Zwei große Steine, für die Wanderer: So baut Erich.

Wo Herbert baut, regiert Ästhetik. Wenigstens so viel, wie am Berg eben möglich ist.

Nie würde er einen Zaunpflock mit Rinde in den Boden rammen. Die Rinde muss ab, zumindest teilweise. Mit einem Schälmesser raspelt er die Borke so schnell vom Holz, dass es zischt.

»Hält länger«, behauptet er, nicht ganz überzeugend. Dann grinst er und sagt: »Sieht auch besser aus.«

Wenn Herbert ein Geländer baut, schrägt er die Enden der Rundhölzer mit der Motorsäge ab. Logik steckt hinter diesem Arbeitsschritt keine, eher Persönlichkeit. »Ich mach das immer so«, sagt er. »Dann sieht man gleich, welcher Bautrupp dagewesen ist.«

Rundhölzer mit abgeschrägten Enden. An fast allen Zäunen im Naturpark Rieserferner-Ahrn findet sich Herberts Markenzeichen. Erkannt wird es von den wenigsten, von ein paar anderen Arbeitern vielleicht. Herbert hat alte, vergilbte Visitenkarten im Geldbeutel, darauf stehen seine Kontaktdaten, Telefon- und Faxnummer, E-Mail. Seine wirkliche Visitenkarte aber hinterlässt er dem Berg.

Der Berg ist für ihn weder Freund noch Feind. Er ist eine Aufgabe, die es in Ruhe und Würde zu meistern gilt und die ein Leben lang dauern wird.

Herberts Leben lang.
Auch in seinen wenigen Urlaubstagen kann er sich kaum vom Berg und dessen Wegen lösen. »Wenn ich mal woanders bin, beim Wandern, da schau ich mir das auch an. Wie machen’s die, wie bauen sie dort? Für einen Gast sieht das ja alles gleich aus. Aber jeder Weg ist anders. Das ist schon ein bisschen Kunst.« Zum ersten Mal an diesem Tag klingt Herberts Stimme stolz. Herbert macht gern Ferien in Österreich. Die Wege dort seien recht schön.

Erich war einmal im Urlaub in Rimini. Wenn er davon erzählt, rammt er noch heute enttäuscht seinen Rechen in den Boden.

»Urlaub, also, ob man das Urlaub nennen kann …«
Rimini hat Erich nicht gefallen. Genau wie Herbert zieht es ihn immer wieder ins Gebirge. Sogar, wenn er nicht dort arbeiten muss.
»Ich geh ja auch privat viel wandern. War als Bub schon auf den Almen und hab mitgeholfen. Da lernt man viel, kennt sich aus im Gelände. Und vor dreizehn Jahren, da hat die Forstbehörde wieder einen Arbeiter gesucht. Es gibt doch nichts Besseres, als wenn man das, was man gern tut, auch beruflich machen kann.«

Erich ist gelernter Schreiner. Jetzt steht er auf 2500 Metern Höhe, hinter ihm windet sich der neue Weg wie ein bräunliches Band am Hang entlang, eineinhalb Meter breit, mehrere hundert Meter lang. Zeit für die Salamisemmel. Erich blinzelt auf das gigantische Geröllfeld hinab. Zwei mausgroße Murmeltiere wuseln darin herum.

»Für einen Büromensch wär das nix. Der würd sich denken, um Gottes willen, wo bin ich denn hier gelandet?«

Obwohl die Arbeit am Berg hart ist, sind die Stellen begehrt. Man braucht keine bestimmte Ausbildung, um ein Südtiroler Wegbereiter zu werden, aber es ist ein Vorteil, wenn man ein Handwerk gelernt hat – egal welches. Nur um Bäume fällen zu dürfen, müssen die Arbeiter vorab einen Kurs besuchen. Alles andere bringen sich die Männer untereinander bei, die Älteren geben ihr Wissen an die weiter, die nachrücken.

Dass das nicht mehr viele sind, liegt vor allem daran, dass in den vergangenen Jahren das Personal reduziert wurde. Früher waren mehr Männer angestellt, auch Studenten aus der Region halfen in ihren Semesterferien mit. Jetzt sind für mehr als sechzig Hektar Fläche, alle Wege, Steige und Gatter manchmal nur noch zwei Arbeiter zuständig. »Weniger Geld« sei der Grund dafür, glauben Herbert und Erich. Dabei ist ihr Lohn nicht üppig. Würden sie in einer der Fabriken in Bruneck arbeiten, gäbe es mehr. Einer von Herberts ehemaligen Kollegen hat sich dafür entschieden.

»Der hatte es aber auch mit dem Kreuz«, sagt Herbert.
Kurzes, abruptes Schweigen.
»Dabei ist das doch erst recht nicht gut, so den ganzen Tag am Fließband. Wenn man es mit dem Kreuz hat, ist Bewegung eigentlich viel besser.«

Der Zaun ist fertig. Weiter oben, kurz vor der Baumgrenze, ja, da wäre noch eine Stelle im Geländer, wackelig, morsch. Herbert wird morgen zurückkommen und sie ausbessern.
Er zieht ein Smartphone in strahlend weißer Hülle aus der Hosentasche. Ein Foto von der getanen Arbeit, klick, Herbert hat den Handyton aktiviert. Noch eines, Hochformat, Zoom, klick. Bilder für den Vorgesetzten.

»Der kommt nicht oft rauf. Einmal, vielleicht zweimal im Jahr. Deshalb schicken wir ihm Fotos: Damit er sieht, dass wir auch was gemacht haben.« Senden kann Herbert die Bilder erst später, unten im Tal. Am Berg ist der Empfang oft schlecht.

Erich verstaut sein Werkzeug in einem kleinen, eisernen Karren kurz vor dem Bagger.

»Eine Raupe«, sagt er. Das, was Bagger und Rechen nicht gemeinsam schaffen, planiert die Raupe. Heute wurde sie nicht gebraucht. Der Bagger ist nur wenige Meter weit gekommen. Der Berg sträubt sich.
Mit einer grauen Plane deckt Erich alles zu. Roter Bagger und graue Raupe bleiben eng aneinandergeschmiegt am Hang stehen.
Ob nie etwas wegkommt?
»Ach, geh.«
Erich steigt ab.

Werkzeug, nein, Werkzeug sei ihm noch nicht gestohlen worden, sagt auch Herbert.
Vielleicht, weil er es so gut versteckt.

Keiner der Arbeiter will jeden Tag aufs Neue Säge, Bohrer oder Schlegel beim Aufstieg mittragen. Nach Feierabend passt der Berg auf die Geräte auf.

Herbert klettert in einen Spalt zwischen einem Baum und einem Felsen, direkt oberhalb des Weges. Er bückt sich, wühlt ein wenig herum, es knistert, raschelt. Dann hält er einen schwarzen Sack in seinen grob behandschuhten Händen. Dunkle Erde bröselt aus den Plastikfalten.

Vorsichtig lässt er die Motorsäge darin verschwinden. Dann die Kanister und den Steinbohrer. Herbert verscharrt den Sack wieder zwischen Baum und Felsen.
Lärchenzweige.
Almrosen.
Tarnung für den aufgewühlten Boden.
Morgen wird Herbert das Werkzeug wieder ausgraben.
Übermorgen.
Überübermorgen.
Und den Tag darauf.
Das Jahr darauf.
Dann sind es siebenundzwanzig Sommer.

Fotos: Alex Fischer