Eigentlich wollte Ulrike Bossenmaier ihrer Klasse nach sechs Wochen Sommerferien nur den Einstieg erleichtern. Anstatt gleich mit dem Stoff loszupauken, sollten die 23 Schüler der 4e einfach mal aufschreiben, was sie sich so alles vorgenommen hatten für dieses Jahr. Frau Bossenmaier staunte nicht schlecht, als sie die 23 Antworten las. Im Grunde gab es nur drei Antworten: »bessere Noten«, »dass ich es aufs Gymnasium schaffe« und »dass ich es aufs Ginasium schaffe«. Da wusste die Lehrerin der Grundschule Berg am Laim, dass dies kein unbeschwertes Schuljahr werden würde.
Sieben Tage später entlud sich zum ersten Mal der ganze Druck, der auf den Kindern lastete: Miriam, sonst eine der Besten, kassierte eine glatte Sechs im Diktat und brach in Tränen aus. Dominik klagte der Lehrerin: »Was glauben Sie, was zu Hause los ist, wenn ich damit ankomme!« Ratlos blickte er auf das Blatt vor ihm, auf dem eine Drei stand. Die 35-Jährige kannte die Schüler, sie war bereits im Jahr zuvor die Klassenlehrerin gewesen. Aber solche Szenen hatte sie nie erlebt. Beim Elternabend der 4e Ende der zweiten Schulwoche bat sie die besorgten Mütter und Väter, das Thema Übertritt bei den Kindern vorerst nicht mehr anzusprechen. Die Grundschule Berg am Laim liegt an einer viel befahrenen Ausfallstraße im Münchner Osten. Im zugehörigen Stadtbezirk wohnen hauptsächlich Arbeiter und einfache Angestellte, jeder Vierte ist Ausländer. Für den Schulrektor Michael Hoderlein hat dieses Umfeld durchaus angenehme Seiten: Er muss sich – anders als die Kollegen in den gehobenen Vierteln wie Bogenhausen oder Harlaching – nicht mit Rechtsanwälten oder Chefärzten herumschlagen, die schon bei der Einschulung wissen, dass die Schullaufbahn ihres Nachwuchses unweigerlich mit dem Abitur enden wird. Natürlich haben auch die Eltern in Berg am Laim Ambitionen. Sie lassen sich am ehesten auf die Formel bringen: nicht unbedingt Abi, auf keinen Fall Hauptschule.
Schulrektor Hoderlein versteht das: »Wie sollen die Eltern es auch anders sehen, wenn die Wirtschaft keine Hauptschüler einstellt?« An der Grundschule Berg am Laim besteht also ausreichend Potenzial für Konflikte mit den Eltern, weshalb die Schule vorgebaut hat: Zum Beispiel schreiben alle Viertklässler seit Kurzem dieselben Arbeiten, die anschließend nach demselben Notenschlüssel bewertet werden. So können die Eltern der 4e nicht behaupten, die Kinder der 4a oder 4c hätten es leichter, und umgekehrt.
Mitte März 2007, noch sieben Wochen bis zum Übertrittszeugnis: Für das Gymnasium gilt als geeignet, wer in den Fächern Mathematik, Deutsch sowie Heimat- und Sachunterricht einen Notendurchschnitt von mindestens 2,33 erreicht. Für die Realschule genügt ein Schnitt von 2,66. Das Übertrittszeugnis wird nicht einfach so ausgestellt, es muss beantragt werden. Wer darauf verzichtet, landet automatisch in der Hauptschule. In der 4e stellen alle einen Antrag, zur Verwunderung von Frau Bossenmaier. Vor wenigen Wochen hat sie die Halbjahreszeugnisse verteilt, und sie kann sich noch gut erinnern, dass manche Schüler mit Ach und Krach auf einen Schnitt von 4,0 kamen.
Die Münchner Abendzeitung veröffentlicht in diesen Tagen zwei eng bedruckte Seiten mit den Adressen hiesiger Realschulen und Gymnasien. Im großen »AZ-Service zum Schulwechsel« können sich die Eltern der Viertklässler informieren, welche Einrichtung politische Seminare anbietet, Kommunikationstraining als Wahlfach oder Spanisch als vierte Fremdsprache. In der Bild-Zeitung erscheint eine vierteilige Serie: »Tatort Hauptschule: Die Ex-Rektorin der berüchtigten Berliner Rütli-Schule packt aus«.Unter den Schülern der Klasse 4e scheint die anfängliche Nervosität verflogen zu sein. Miriam hat sich vom Schock nach dem ersten Diktat erholt und gleich in der nächsten Probe eine Zwei geschrieben. Nun steht sie in Deutsch »auf zwei Komma noch was« und in Mathe auf einer Eins. Auch Dominik nimmt klar Kurs aufs Gymnasium.
Im Moment wirkt alles bunt und heiter im Klassenzimmer der 4e: An den Fenstern kleben Blumen aus Papier, an der Rückwand Bilder von Katzen, mit Wasserfarben gemalt. Überall hängen Plakate und Kärtchen, mit geometrischen Figuren – Kegel, Kugel, Pyramide–, mit deutschen Verben und englischen Vokabeln. Selbst das blaue Plakat am Ein-gang fügt sich fröhlich in den Reigen ein, mit seinen grünen, gelben und roten Sprechblasen, die um die Frage kreisen: »Was ich mir für das vierte Schuljahr vornehme«.
Die Eltern leiden jetzt offensichtlich mehr unter dem Druck als ihre Kinder. Miriams Mutter etwa sagt, »es nervt einfach, wenn jeder fragt: Und wo schickst du jetzt deine Tochter hin? Ständig ist man am Rechnen, ob’s reicht oder nicht reicht. Vor wichtigen Proben grübelt man: Sagt man’s ihr, dass sie sich besonders anstrengen soll? Oder macht sie das nur unnötig nervös?« Dominiks Mutter platzte schon einmal der Kragen, als ihr Sohn zu Hause eine Deutschprobe vorlegte. Frau Bossenmaier lässt alle größeren Arbeiten von den Eltern abzeichnen. Dominiks Mutter wollte also gerade unterschreiben, da fiel ihr diese Frage zum Igel auf. Igel? Was hat das mit Deutsch zu tun, »das ist doch Heimat- und Sachkunde!«, kritzelte sie ziemlich wütend auf die Probe.
Die Osterferien beginnen dieses Jahr schon Anfang April. Vanessa fährt mit ihrer Familie zu Verwandten nach Kroatien. Sie genießt die Abende dort, wenn alle zusammensitzen und »Uno« spielen oder »Mensch ärgere Dich nicht«. Im bisherigen Schuljahr blieb dafür kaum Zeit, abends hat ihre Mutter sie meist abgefragt. Vanessas Mutter spricht offen darüber, wie sehr sie sich von dem Notenstress anstecken ließ und wie persönlich sie das alles nahm. »Ich weiß noch gut, die erste Probe: Haut die mir doch gleich eine Vier rein.«
Die Stimmung war entsprechend gereizt in den nächsten Wochen. »Wenn meine Tochter von der Schule kam, hab ich manchmal nicht mehr ›hallo‹ gesagt, sondern nur gefragt: Habt ihr heute irgend was rausgekriegt?« Als dann Vanessa auch noch eine Drei in Mathe heimbrachte, »voller Leichtsinnsfehler, da habe ich geschrien wie eine Verrückte«. Die Lage entspannte sich erst, als Vanessa beschloss, doch nicht auf das Gymnasium zu gehen wie ihre Freundin Alice, sondern auf die Realschule wie ihre Freundinnen Michaela und Jennifer. Da war Vanessas Mutter sehr froh, dass »ich nach der Grundschule nicht noch das Gymnasium machen muss«. In den Osterferien verspricht sie ihrer Tochter: »Wenn das Zeugnis da ist, atmen wir auf und spielen abends wieder Gemeinschaftsspiele.«
Die Psychologin Helga Ulbricht leitet die Münchner Schulberatung und hat zuvor 15 Jahre lang an einer Volksschule unterrichtet. Die Übertrittsproblematik sei nicht neu, sagt sie, habe sich aber verschärft. »Vor zwanzig Jahren konnten Eltern über eine Fünf noch grinsen, heute brechen da Zukunftsängste aus. Erst recht, wenn es um die vierte Klasse geht.« Eine Änderung des Schulsystems hat die Panik der Eltern noch gesteigert: Bis zum Jahr 2001 verließen die Realschüler die Volksschule nach der sechsten Klasse. Seitdem wechseln sie bereits in der vierten Klasse, wie es bei den Gymnasiasten schon lange der Fall ist. »Die Realschulen haben natürlich hurra gejubelt. Sie bekommen nun selbstständige und lernwillige Schüler, die noch nicht mitten in der Pubertät stecken«, sagt Ulbricht. »Entwicklungspsychologisch gesehen, war es sicher richtig, die Kinder früher auf die Realschule zu schicken, weil sie noch leichter formbar sind. Aus schulpolitischer Sicht war es ein Fiasko: Die Hauptschulen bluten seitdem aus.«
Mitte April, noch drei Wochen bis zum Übertrittszeugnis. Die 4e hat dieses Jahr schon einige Exkursionen unternommen. Mal ging es ins Lenbachhaus zur Kunstausstellung, mal zum Öko-Betrieb auf Gut Herrmannsdorf. Aus rechtlichen Gründen muss bei solchen Ausflügen immer ein zweiter Erwachsener dabei sein. Bisher kein Problem, es fand sich immer jemand aus dem engagierten Elternkreis. Heute besucht die 4e eine Hauptschule und Frau Bossenmaier steht mit der Klasse allein da.
Die Rektorin der Hauptschule am Innsbrucker Ring freut sich umso mehr, dass sich mal jemand für ihre Einrichtung interessiert. Die Grundschüler werden durch das Lehrerzimmer geführt, sie staunen über das Musikzimmer, in dem ein großer Flügel steht, und über die beiden Computerräume. Dann gehen sie in eine sechste Klasse, die gerade Englisch hat. Die Schüler dort heißen Mourad, Ali, Biala, Jasenko oder Bida. Die Führung endet im Fitnessraum und der benachbarten großen Sporthalle. »Wer zu uns kommt, muss keine Angst haben«, sagt der Sportlehrer, der gerade mit ein paar Jugendlichen Fußball spielt. »Hier ist noch keiner erschlagen worden.« Das ist eine neue Information für manche Schüler der 4e. Anfang des Schuljahres hat Dennis seinem Freund Dominik erklärt: »Wenn du auf die Hauptschule kommst, hast du nur eine Chance: rennen. Die haben nämlich alle die Hosen so tief sitzen.«
Die Klasse 4e, das sind zehn Mädchen und 13 Jungen. Neun Schüler haben ausländische Eltern oder sind selbst außerhalb Deutschlands geboren. Sieben Schüler werden von ihrer Mutter allein erzogen. Drei Mädchen haben in diesem Jahr ihre erste Periode bekommen, ein Mädchen kam kürzlich geschminkt zum Unterricht, mit Stöckelschuhen. Ein Junge glaubt noch an den Osterhasen, ein anderer hat mit seinen Eltern dieses Jahr das KZ Dachau besucht. Kurzum: Die Schüler der 4e könnten kaum verschiedener sein. Gleiches gilt auch für ihre Chancen, was den Erfolg in der Schule angeht: Von Christian zum Beispiel erzählen seine Mitschüler, sein Deutsch sei kaum zu verstehen nach den Ferien, wenn er seine Verwandten in Italien besucht hat. Frau Bossenmaier sagt, sie wisse jeden Montag, wer von den Schülern mit getrennt lebenden Eltern am Wochenende den Vater besucht hat: »Die sind dann total durch den Wind.«
Trotzdem kann auch eine engagierte Lehrerin wie Frau Bossenmaier, die bei Schülern wie Eltern ein hohes Ansehen genießt, auf externe Einflüsse und Widrigkeiten im Familienkreis ihrer Schüler nur begrenzt Rück-sicht nehmen. In gewissem Sinn trifft die Fundamentalkritik des französischen Sozio-logen Pierre Bourdieu deshalb auch in der 4e zu: »Indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten und Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit.«
Abends um neun Uhr, Maxi putzt sich die Zähne. Seine Mutter sitzt am Esstisch, daneben plätschert ein Aquarium, aus der Küche hört man den Kühlschrank brummen. »Wir haben zuerst gar nicht gerafft, wie wichtig die vierte Klasse ist«, sagt sie, »so was wie ein Übertrittszeugnis gab es zu meiner Zeit nicht.« Kurz vor Weihnachten habe sie Frau Bossenmaier beim Elternabend informiert, »dass man da einen bestimmten Notendurchschnitt braucht«. Die Lehrerin meinte, Maxi müsse mehr tun, sonst werde es eng werden für die Realschule. Also begann der Junge mehr zu lesen und Diktate zu üben, seine große Schwäche. Gern würde ihn seine Mutter dabei öfter unterstützen, aber sie arbeitet ganztags als Zahnarzthelferin und kommt häufig erst abends um halb sieben nach Hause. Die Nachmittage verbringt Maxi daher im Hort oder bei seinen Großeltern. »Als Alleinerziehende«, sagt sie, »ist man schon ein Affe.«
Mittwoch, 2. Mai, der Tag der Zeugnis-vergabe. Die Schüler der 4e sind etwas unruhiger als sonst. Vielleicht auch, weil sie schon fünf Stunden hinter sich haben. In Mathematik geht es heute um Hohlmaße. Frau Bossenmaier hat Tassen, Gläser, Flaschen und einen Maßkrug mitgebracht, damit die Schüler ein Gefühl für das Thema bekommen. Sie sollen die einzelnen Behälter mit Wasser füllen und messen, wie viele Milliliter oder Liter hineinpassen. Wann immer möglich, versucht die Lehrerin, den Unterricht für die Schüler anschaulich zu gestalten. Trotzdem, sagt sie, »springt in der vierten Klasse einfach die Leistungsschere auf«. Vieles von dem, was die Kinder lernen, baut auf dem Wissen der Vorjahre auf. »Wenn ich zu Hause eine Stunde vorbereite, weiß ich schon, wann mir welche Schüler aussteigen werden.«
Die Zeugnisvergabe verläuft überraschend reibungslos. »Wenn ihr eure Noten austauscht, macht das bitte nach dem Unterricht«, hat Frau Bossenmaier gesagt. Als der letzte Schüler sein Zeugnis bekommen hat, ertönt auch schon der Gong. Die Bilanz der 4e: Zehn Schüler erfüllen die Voraussetzungen für das Gymnasium, acht werden auf die Realschule wechseln. Bleiben fünf, die auf die Hauptschule gehen müssten. Aber zwei von ihnen haben sich für den Probeunterricht an der Realschule entschieden, eine Prüfung, die im Erfolgsfall die Tür zur Realschule öffnet. Die drei anderen Schüler wollen sich für die Orientierungsstufe in München-Neuperlach anmelden.
Die Orientierungsstufe ist eine Schulform, die eher nach Berlin oder Bremen passt als ins streng leistungsorientierte Bayern: Die Schüler, egal welchen Notenschnitt sie in der vierten Klasse hatten, bleiben zwei weitere Jahre zusammen – wie in der Grundschule. »Wir sind zwar nicht der Weisheit letzter Schluss«, sagt der Schulleiter Dieter Hüttner. Aber letztes Jahr wechselten immerhin sechzig seiner Sechstklässler ans Gymnasium, obwohl nur zwanzig von ihnen Ende der vierten Klasse den dafür nötigen Schnitt hatten. Am liebsten würde Hüttner die Orientierungsstufe künftig bis zur zehnten Klasse ausbauen, weil er die Schüler an seiner Schule besser aufgehoben glaubt, »am Gymnasium wird doch nur noch gnadenlos ausgesiebt«. Daraus wird wohl nichts, denn erstens geht er demnächst in Rente und zweitens »ist das politisch nicht gewollt«.
Einen Tag nach der Zeugnisvergabe. Der rothaarige Daniel zeigt sein neues Handy im Klassenzimmer herum, ein Geschenk seiner Mutter, weil er das mit dem Gymnasium gepackt hat. Am Abend treffen sich elf Mütter und Frau Bossenmaier in einer Kneipe nahe der Schule zum Elternstammtisch der 4e. Eigentlich kommen immer dieselben zu dem zwanglosen Treffen, um Probleme im Schulalltag und künftige Projekte zu besprechen: acht Mütter von künftigen Gymnasiasten, drei Mütter von Realschülern. Eltern von Hauptschulkandidaten sind nicht vertreten. Dieses Mal geht es um den Verkehrsunterricht und die Abschlussfeier im Juli. Auch das vergangene Schuljahr ist noch einmal Thema in der Runde. »Es war ein schönes Jahr«, sagt die Mutter der künftigen Gymnasiastin Alice, »aber warum jetzt schon dieser Druck? Die Kinder bekommen doch später im Leben noch genug Druck.«
»Kinder wollen etwas leisten und sie wollen sich auch messen«, sagt Schulrektor Hoderlein. Trotzdem hält auch er die jetzige Übertrittsregelung für problematisch. Er würde lieber die Eltern entscheiden lassen, auf welche Schule ihr Kind nach der vierten Klasse wechselt. »Ständig ist von der Verantwortung der Eltern die Rede – nur beim Übertritt nicht. Warum sollen wir als letzte Instanz festlegen, wo es hingeht? Es gibt nachweislich genug Schüler, bei denen der Knoten nicht in der vierten Klasse platzt, sondern erst später.«
German Denneborg, Ministerialrat im Bayerischen Kultusministerium, hegt sogar Sympathien für die Idee, den Elternwillen zum entscheidenden Kriterium für den Übertritt zu erheben. »Das wäre dann aber der Tod der Hauptschule.« Er hält es eher für geboten, den Eltern zu erklären, dass mit der vierten Klasse keineswegs die Würfel gefallen sind. »44 Prozent der bayerischen Schüler holen sich ihre Hochschulreife außerhalb des Gymnasiums. Das wissen nur die wenigsten Eltern. Und wenn wir es ihnen mitteilen, glauben sie uns nicht. In Sachen Schule richten sich die Eltern nach den Nachbarn, Freunden oder Schülern im Bekanntenkreis. Dann kommen die Lehrer und zuallerletzt unsere Broschüren.«
Acht Tage nach dem Übertrittszeugnis, die Leistungsbereitschaft in der 4e ist deutlich gesunken. Frau Bossenmaier hat deshalb ein neues Belohnungssystem eingeführt: Wer es eine Woche lang schafft, alle Hausaufgaben zu machen und obendrein Geodreieck, Zirkel, Hefte und Bücher zum Unterricht mitzubringen, bekommt übers Wochenende die Hausaufgaben erlassen. Wer dagegen fünfmal pro Woche schludert, muss nachmittags eine Stunde nacharbeiten. Aufgefallen ist der Lehrerin auch, dass Vanessa seit der Zeugnisvergabe zweimal eine Vier geschrieben hat und selbst an einfachen Aufgaben im Unterricht scheitert. Offenbar hat ihre Mutter Wort gehalten und die abendliche Abfragerei eingestellt.
Auch bei Maxi zu Hause gibt es neue Regeln. Seine Mutter hat ihm für die nächsten Tage verboten, am Computer »World of Warcraft« zu spielen. Sein Fernseher steht zwar weiterhin in seinem Zimmer, die Mutter hat ihm aber auch einen Ausweis für die Bücherei besorgt, damit er sich Bücher ausleihen und mehr lesen kann. Maxi ist einer der beiden Schüler aus der 4e, die sich für den Probeunterricht an der Realschule angemeldet haben. Drei Tage lang wird er über den Stoff des vierten Schuljahres geprüft werden, Mathe und Deutsch, schriftlich und mündlich – Maxis letzte Chance, um die Hauptschule doch noch zu vermeiden.
Er bereitet sich mit einem Buch vor: Ziel Realschule. Es enthält Mathe- und Deutschaufgaben früherer Prüfungen und stammt von einem kleinen Verlag, der auch den Titel Ziel Gymnasium vertreibt. Voriges Jahr wurden die beiden Bücher 12000-mal in Bayern verkauft, das sind 25 Prozent mehr als 2001, obwohl die Zahl der Grundschüler im selben Zeitraum zurückging. Einige Diktate hat Maxi schon durchgearbeitet. Er kam jedes Mal auf mehr als 20 Fehler. Das Buch enthält auch einen Notenschlüssel: Mehr als zwölf Fehler bedeutet Note sechs. Gestern schlich Maxi um halb elf Uhr abends zur Mutter ins Wohnzimmer. »Ich kann nicht schlafen«, sagte er. »Irgend etwas arbeitet in ihm«, sagt sie.
Die Pfingstferien rücken näher und Frau Bossenmaier ist froh, dass die kritische Phase in der 4e überstanden ist. Im Großen und Ganzen hätten die Schüler das erreicht, was von ihnen zu erwarten war. Natürlich weiß die Lehrerin, dass hinter all den Noten ein Fragezeichen steht: Welchen Einfluss hat das Umfeld, die Eltern und Geschwister, die Freunde und Bekannten? Am Intelligenzquotienten der einzelnen Kinder kann es wohl nicht liegen, dass in Bayern etwa 35 Prozent der Grundschüler nach der vierten Klasse auf das Gymnasium wechseln, in München aber 50 Prozent und an manchen Schulen in den gehobenen Vierteln der Stadt sogar 70 bis 80 Prozent. Wie sind etwa die Noten eines Adam zu bewerten, der acht Geschwister hat und in der 4e vor allem dadurch auffiel, dass er ständig ohne Hefte und Stifte zur Schule kam? Und jetzt in die Orientierungsstufe wechseln sollte, aber von seinen Eltern nicht rechtzeitig angemeldet wurde? »Dann geht er halt auf die Hauptschule«, hat die Mutter gesagt.
Der letzte Freitag im Mai, endlich Pfingstferien. Maxi kommt nach Hause und findet ein Schreiben der Fridtjof-Nansen-Realschule im Briefkasten, adressiert an seine Mutter. Sie ist noch in der Arbeit. Also öffnet er das Kuvert selbst und liest: »Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn Maximilian den Probeunterricht nicht bestanden hat. Der Aufnahmeausschuss kam nach eingehender Beratung zur Auffassung, dass Ihr Sohn zum jetzigen Zeitpunkt nicht für die Realschule geeignet ist.« Maxi weint viel an diesem Abend und geht früh zu Bett, weil er Kopfschmerzen hat.
Die Bilanz der 4e nach einem aufwühlen-den Schuljahr: Zehn Kinder gehen aufs Gymnasium, neun auf die Realschule, zwei in die Orientierungsstufe, zwei auf die Hauptschule. Offen bleibt die Frage, ob es nötig ist, bereits zehnjährige Kinder unter Druck zu setzen, um sie dann in Gewinner und Verlierer zu sortieren.