Wenn Rachel Oberlin mit ihrem Engelslächeln durch Charlie Sheens Villa in Sherman Oaks führt, möchte man ihr fast glauben, dass er hier »ein ganz normales Leben« lebt. Die Petunien blühen, das Wohnzimmer ist blitzblank, im Kühlschrank stehen Vitaminsäfte. Doch im Internet kann man Nacktfotos und Pornos mit ihr besichtigen, aus den Bettchen im blau gestrichenen Kinderzimmer haben Polizeibeamte vor ein paar Monaten die zweijährigen Zwillinge Max und Bob auf Antrag ihrer Mutter Brooke Mueller weggetragen, und im Schlafzimmer stehen zwei große Betten für Charlies »Göttinnen«. In einem liege sie, erklärt Oberlin, im anderen die Ex-Krankenschwester Natalie Kenly. Charlie könne jeden Abend entscheiden, zu wem er sich legen wolle.
Man müsste jetzt nur noch Charlies linkischen Filmbruder Alan dabeihaben, dann könnte man eine realitätsnahe Episode von Two and a Half Men drehen. Wären die Fernsehgurus seines Senders CBS schlau und skrupellos, würden sie einfach Kameras in Charlie Sheens Villa installieren, seine alte Zwei-Millionen-Gage für die Sitcom verdoppeln, so wie er das gefordert hat, und die Einschaltquoten würden in den Himmel schießen.
Aber Charlie Sheen ist nicht Charlie Harper, Charlie Harper aus Two and a Half Men ist die gerade noch familienverträgliche Version von Charlie Sheen: Harper wohnt in einem Strandhaus in Malibu, verdient Millionen mit Werbejingles, und die Frauen fallen einfach in sein Bett. Wenn er sich abschießt, dann mit Wodka und Bier statt mit Crack und Kokain, auch schlägt er die Frauen nie, sondern ist selbst bei ihrer Entsorgung so entwaffnend charmant, dass ihm jede Woche zehn Millionen Fernsehzuschauer zusehen wollten – die erfolgreichste Fernsehserie aller Zeiten. Es ist die Rolle seines Lebens, denn sie wurde nach seinem Leben modelliert. »Von unserer ersten Idee an sahen wir Charlie als unseren Helden«, sagt Produzent Chuck Lorre: »Bis zu seiner Zusage waren wir bloß ein paar Jungs mit einem halbgaren Drehbuch.«
So begann 2003 eines der erfolgreichsten Missverständnisse in der Geschichte des Fernsehens: Einen sexsüchtigen Alkoholiker dafür zu bezahlen, dass er einen sexsüchtigen Alkoholiker spielt, das ist, als engagiere man einen Zuckerkranken in einem Selbstbedienungsladen für Süßigkeiten. Als er zuletzt bei seiner Live-Show My Violent Torpedo of Truth in Chicago gefragt wurde, warum er so häufig für Sex bezahlt, sagte er: »Weil ich Millionen zu verschleudern hatte. Mir sind die Sachen ausgegangen, die ich noch kaufen konnte.«
Skandal kommt vom griechischen skandalon, buchstäblich ein »Stolperstein« oder »Fallstrick«, im übertragenen Sinn ein Ärgernis, das das Vertrauen in einen Menschen und dessen Ruf ruiniert. In den letzten Wochen hat Charlie Sheen eigenhändig die ungeschriebenen Gesetze des Hollywood-Skandals außer Kraft gesetzt. Die übliche Dynamik läuft so: Ein Star wird bei etwas Unerhörtem ertappt (Drogenmissbrauch, käuflicher oder außerehelicher Sex, Gewalt, oder, wie in Charlies Fall, alles zusammen), es erfolgt ein öffentlicher Aufschrei, möglicherweise juristische Konsequenzen, in jedem Fall aber Ächtung, dann Zerknirschung und Läuterung des Schuldigen, am besten Heirat mit einem angesehenen Mitglied der Society, möglichst schnell Baby-Fotos, dann Wiederaufnahme in die Gemeinschaft – in Deutschland als Michel-Friedman-Syndrom oder Christoph-Daum-Strategie bekannt. Schlimmstenfalls wird der Delinquent rückfällig, dann geht er auf Los und beginnt von vorn.
Es gibt ganz wenige Skandaltypen wie Keith Richards oder Silvio Berlusconi, die es geschafft haben, ihr Image in eine atemberaubende Karriere umzumünzen. Außerhalb der Rockmusik oder nördlich von Italien funktioniert die permanente Grenzüberschreitung praktisch nie. Die Fans verzeihen es einfach nicht. Gerade erst wurde der Stardesigner John Galliano von Dior wegen antisemitischer Sprüche rausgeworfen. Lindsay Lohan gilt seit der dritten Verhaftung als unvermittelbar, Mel Gibsons Karriere hat sich nie mehr erholt, seitdem er seine Exfreundin verprügelte. Selbst Michael Jacksons Ruf wurde durch den Vorwurf, er habe Kinder missbraucht, irreparabel beschädigt, und Golf-Gott Tiger Woods kämpft sich angeschlagen aufs Green zurück.
Die Fans von Charlie Sheen dagegen stehen Schlange, um Wollmützen mit dem Aufdruck »Ich bin nicht bipolar« und »Sheenius«-Aschenbecher zu kaufen. Wenn man sie fragt, warum, sagen sie: »Weil er ein Rebell ist.« Oder: »Weil sich endlich einer traut, die Wahrheit zu sagen.« Als CBS ihn Anfang März wegen seiner Eskapaden feuerte, feuerte Sheen mit einer 100-Millionen-Dollar-Klage zurück. Sein Erfolg muss ein Gefühl der Unverwundbarkeit in ihm ausgelöst haben: Am Tag nach der Kündigung schwang er halbnackt eine Machete auf einem Hausdach. Die wüsten Tiraden, er sei ein »Rockstar vom Mars« mit »Tigerblut« und »Adonis-DNA«, die derben Angebereien von den Drogenpartys, die Jagger und Richards wie Schuljungs aussehen ließen, haben eine Anhängerschar geschaffen, die jeden weiteren Fluch mit Beifallsstürmen zelebriert.
Hollywood vergibt, solange die Kasse stimmt. Medien und Fans arbeiten kollektiv als Suchthelfer. Wenn Star-Interviewer Piers Morgan Charlie Sheen nach fünfzig Minuten wirrem Geschwafel auf die Schulter klopft und ihm bescheinigt, er könne nicht erkennen, »dass irgendwas falsch laufe«; wenn Hunderte Fans bei Sheens Live-Show in Chicago kollektiv »Fuck that bitch!« brüllen, sobald Sheen über seine Exfrau herzieht; wenn Dutzende von Shows mit Schecks darum buhlen, ihn auf Sendung zu kriegen, und 3,5 Millionen Twitter-Anhänger jedes Sheen-Gebrabbel als Frohbotschaft weiterzwitschern – welcher Größenwahnsinnige würde sich da nicht in der eigenen Weltsicht bestärkt sehen? Solange Millionen einschalten, wenn er auf Sendung geht, solange werden ihm Millionen bezahlt.
Früher stellte man Wahnsinnige in Käfigen aus, heute gehen sie auf die Bühne.
Fast alle anderen gefallenen Stars, von Michel Friedman bis Verona Feldbusch, von Hugh Grant bis O. J. Simpson, stolperten über Polizeiermittlungen. Es waren Sheriffs, die Hugh Grant beim Oralsex auf dem Sunset Boulevard ertappten, Mel Gibson betrunken aus seinem Lexus zogen und George Michael auf einer öffentlichen Männertoilette mit einem anderen Mann überraschten. Die Medien bemühten sich anschließend fieberhaft, saftige Details hinter den hohen Mauern ihrer Villen auszubuddeln. Gegen Sheen dagegen liegt derzeit kein Strafbefehl vor. Er brüstet sich, »6-Gramm-Brocken« verdrückt zu haben, aber die Polizei ermittelt nicht wegen Drogenbesitz.
Brooke Mueller soll er gedroht haben, ihr »den Kopf abzuschneiden und ihn in einer Schachtel an ihre Mutter zu schicken«, aber auch sie hat nicht Anzeige erstattet. Ohne Angst vor Konsequenzen hat Charlie Sheen die Lust der Medien an der Selbstentblößung umgemünzt: Er hat die Kameras in seiner Villa selbst installiert, sendet live aus seinem Wohnzimmer, drängt unangemeldet in jede Talkshow und hält Plädoyers für seinen ausschweifenden Lebensstil.
Im Mittelalter stellte man Wahnsinnige in Käfigen auf dem Jahrmarkt aus und ergötzte sich an ihren wirren Brabbeleien. Im 21. Jahrhundert gibt sich ein psychisch Kranker freiwillig auf der Bühne zur Besichtigung frei, weil er mit seinem Halbwahnsinn Geld verdient, viel Geld, allein sieben Millionen Dollar mit der Live-Tour. Manche von Sheens Auftritten sind dann auch tatsächlich tollkühne Bravado-Akte, beklatscht und bejubelt, andere sind Fiaskos.
In New York beginnen die Buhrufe zwanzig Minuten nach Beginn der Show. Charlies Live-Show in der ausverkauften Radio City Music Hall ist ein lauwarmes Aufkochen seiner berüchtigtsten Medien-Ausfälle, gespickt mit lahmen Ausreden, warum sein letzter Besuch in New York vor einigen Monaten mit dem Zertrümmern einer Hotelsuite und dem Verprügeln einer Prostituierten endete: »Sie wollte meine 173 000 Dollar teure Uhr stehlen.« Die Meute ist gekommen, um einen Rebell fluchen zu hören, nicht um einem kettenrauchenden Drogensüchtigen beim Zerfall zuzusehen: »Ihr wollte doch auch, dass ich wieder zu Two and a Half Men zurückkomme?«, bettelt Charlie, während das Publikum anfängt mit Gegenständen zu werfen. Ein Zuschauer brüllt auf dem Weg zum Ausgang: »Das ist schlimmer als Tschernobyl!«
An Charlie Sheen lassen sich die Mechanismen Hollywoods eindrucksvoller studieren als an jedem anderen Crash-Piloten: Mit elf Jahren hat er nach eigener Aussage zum ersten Mal Drogen probiert, mit 15 hatte er seinen ersten Sex, mit zwanzig wurde er zum ersten Mal verhaftet. Es wäre ein Wunder, wenn drei Dekaden harten Alkohol- und Drogenmissbrauchs keine bleibenden Schäden hinterlassen hätten. Sein Vater Martin Sheen hat gesagt, dass er »die Hölle«, durch die sein Sohn geht, »persönlich nachvollziehen« kann. Auch er habe psychotische Schübe und Suchtphasen gehabt, auch Charlies Bruder Emilio wurde erst in einer Entzugsklinik trocken. »Die Sucht ist wie ein Krebs«, sagt Martin Sheen. Erst als er »ganz unten« war, fand er zu Gott und zog sich aus dem Sumpf. »Wer Drogen nimmt, bleibt emotional auf dem Stand eines Teenagers. Man ist emotional verkrüppelt.«
Charlie Sheen ist zwanzig Jahre alt, als er seinen eigenen Lebenstraum zu Schrott boxt: Er wollte nämlich nie Schauspieler werden, sondern war auf dem besten Weg zum Baseball-Star. Als er aber seine Englisch-Lehrerin mit dem Tod bedroht, ist der Rausschmiss aus der High School nicht mehr zu verhindern. Ohne Schulabschluss kein Baseball-Stipendium, es bleibt nur die Schauspielerei. Mit seinem Bruder Emilio und den anderen verwöhnten Reiche-Leute-Bengeln in Malibu – Rob Lowe, Tom Cruise und Sean Penn – dreht er kleine Super-8-Streifen. Rob Lowe erinnert sich an »wundervolle Tage« in der Sheen-Villa mit »nie versiegendem Häagen-Dazs, brandneuen BMWs, einem Lagunen-Pool mit Unterwassertunneln und einem professionellen Basketballplatz«.
Mit 21 fliegt Charlie für Oliver Stones Vietnam-Epos Platoon zurück auf die Philippinen, wo sein Vater bei den Dreharbeiten für Francis Ford Coppolas Apocalypse Now sieben Jahre zuvor einen psychotischen Anfall und einen Herzinfarkt erlitten hatte. Charlie tritt in die Fußstapfen seines Vaters, als Schauspieler und Alkoholiker.
Das Porno-Starlet Ginger Lynn Allen sagt: »Wenn Charlie nüchtern ist, ist er süß, nett, liebevoll und großzügig. Wenn er trinkt und Drogen nimmt, gerät er außer Kontrolle.« Also recht häufig. 1990 schießt er seiner damaligen Freundin Kelly Preston »versehentlich« in den Arm. 1994 wird Sheen zum Gespött Hollywoods, als im Prozess gegen die Bordell-Chefin Heidi Fleiss herauskommt, dass er in 14 Monaten 53 000 Dollar für elf Frauen bezahlt hat. 1996 verprügelt er die Porno-Darstellerin Brittany Ashland und wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Sie sei, sagt er später, »unglücklich gestürzt«.
1998 ist Sheen am Ende. Niemand will ihn mehr engagieren, schließlich wird er mit einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert. Nach dem Entzug gibt er sich geläutert. »Meine wilden Tage sind vorbei«, beteuert er, er habe zu Gott gefunden. Noch hält er sich an die bewährte Skandalbewältigungs-Dramaturgie und Hollywood belohnt ihn 2000 mit einer Rolle in der populären Sitcom Chaos City. 2002 heiratet er das dreißig Jahre alte Bond-Girl Denise Richards und lässt sich auf ihren Wunsch sogar seine 13 Tattoos weglasern. Zwei Jahre später, im sechsten Monat schwanger, kann Denise Richards nicht schnell genug geschieden werden. Richards sagt unter Eid aus, ihr Mann sei spiel- und sexsüchtig, habe eine Affinität zu Gasmasken und lagere seine Waffen gern unter dem Sofatisch. Er habe sie geschlagen und mit dem Tod bedroht. Das Gericht verbietet Sheen, ihr und seinen beiden Töchtern Sam und Lola näher als 300 Meter zu kommen.
2008 findet sich eine neue Retterin: die 29 Jahre alte Immobilienmaklerin Brooke Mueller, mit der er Zwillinge bekommt. Doch schon Heiligabend 2009 verbringt Sheen wieder im Gefängnis: Mueller ruft die Polizei, weil Charlie sie verprügelt. Sheen wird zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. CBS spendiert ihm eine Gehaltserhöhung und der Erfolg von Two and a Half Men ist für ihn eine Art Lizenz, so bleiben zu dürfen, wie er ist.
Charlie Sheen: die Touristenattraktion.
Warum werden Charlie Sheen alle Eskapaden verziehen? Es ist das Geld, das ihn für den Fernsehsender unentbehrlich macht. Der bis vor Kurzem bestbezahlte Fernsehstar der Welt ist für den Sender eine geschätzte Milliarde Dollar wert – die Einnahmen aus der weltweiten Vermarktung von Two and a Half Men, die ohne Sheen nicht denkbar ist. Aber warum zählen so viele Frauen zu seinen Fans, obwohl er mindestens sechs Frauen verprügelt oder bedroht hat?
Sheen hat die Unbelehrbarkeit zu seinem Markenzeichen gemacht. In einer Öffentlichkeit, in der Meinungen nicht mehr von medialen Bedenkenträgern gemacht werden, dafür von Klatsch-Websites und Twitterern, die permanent nach neuen Gesprächsstoff-Fitzelchen gieren, feiert er mit seinem Benehmen Triumphe. Die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie haben jene der Moral ausgehebelt. Auf seine Fernsehrolle ist Sheen nicht mehr angewiesen, er ist jetzt seine eigene Marke, sein eigenes Rauschmittel: die Droge Charlie Sheen. Nur »Göttin« Rachel Oberlin hat genug von dieser Droge und hat ihn inzwischen verlassen – per SMS.
Charlies alte Absturz-Buddys, mit denen er als Teenager um die Häuser zog, haben alle die Kurve gekriegt: David Arquette hat sich nach dreißig Jahren Alkohol- und Drogenkonsum selbst in die Klinik eingeliefert. »Ich musste mein eigenes Haus explodieren lassen und ganz unten ankommen, um mich wieder aufbauen zu können«, sagt er, »Charlie ist noch nicht ganz unten.« Rob Lowe hat nach einer erfolgreichen Entziehungskur die richtige Frau geheiratet und sieht auf dem jüngsten Vanity Fair-Cover aus wie ein junger Muskelgott. Sean Penn leistet in Haiti erfolgreiche Aufbauarbeit, Robert Downey Junior, den die Polizei einst betrunken und halbnackt in einer Seitengasse in Los Angeles auflas, feiert einen Erfolg nach dem anderen.
TMZ, der berüchtigste Klatschkanal Amerikas, hat ab dem 1. Mai eine Skandal-Hollywood-Tour im Programm. Highlights: die Villa, in der Charlie Sheen im Januar mit sechs Prostituierten und einem Berg Koks feierte, bevor der Krankenwagen gerufen werden musste; Saks Fifth Avenue in Beverly Hills, wo Winona Ryder Designer-Klamotten mitgehen ließ; die Villa, in der Nicole Simpson ermordet wurde. Im Bus laufen zwischen den Stationen, sagt Marketing-Direktor Philip Ferentinos, »schockierende und nie zuvor gesehen Videos mit Zeugenaussagen«. In Deutschland würde die Ankündigung von Tagestouren zu Barschels Badewanne, Michel Friedmans Prostituiertentreff oder den Schlafzimmern von Jörg Kachelmanns Geliebten für erbitterte Debatten sorgen, in Hollywood ist die Tour für 69 Dollar auf Wochen ausverkauft.
Charlie Sheen ist nun eine Touristenattraktion. Er hat sich seine bekanntesten Kampfrufe (»Hexenmeister«, »Vatikan-Killer«, »Tigerblut«) patentieren lassen und wird vermutlich auch diesmal wieder mit einem neuen Millionenvertrag davonkommen. Zumindest, wenn er überlebt. »Wie Erol Flynn muss man das Schwert manchmal senken«, hat er gesagt. Doch mit dem Vergleich hat er sich keinen Gefallen getan: Nach einigen Jahrzehnten Alkohol-, Drogen- und Partyexzessen starb der Frauenliebling Flynn viel zu früh, mit fünfzig. Nach einer wochenlangen Sause krepierte er im Bett, von seinem geschundenen Körper im Stich gelassen.