Ruhe bitte!

Manchmal muss man vor dem Lärm der Welt in die Stille fliehen, aber der Welt gehen langsam die geeigneten Orte aus. Wir haben dennoch ein paar gefunden – gleich hier in Europa.

Die Pressemeldung eines um Touristen buhlenden Fremdenverkehrsamts verspricht völlige Einsamkeit. Es geht um eine sechs Tage lange Wanderung durch Lappland: »300 Kilometer nördlich des Polarkreises befindet sich in der Nähe des Ortes Muonio eine der unberührtesten Wildnisregionen Europas.« Völlige Einsamkeit in Europa – tatsächlich? Der zuständige Mitarbeiter aus dem Tourismusbüro in Helsinki rudert am Telefon nur ein wenig zurück: »Nun ja, vielleicht nicht unbedingt im Juli oder August und auch nicht auf den ausgewiesenen Wanderrouten. Aber wer im Frühsommer in den Wäldern Lapplands seinen eigenen Weg sucht, der hat wirklich gute Chancen, wochenlang niemanden anzutreffen.«

Für das Verlangen nach Einsamkeit gibt es jede Menge guter Gründe: die Schnauze voll haben von seinen Mitmenschen, Gott suchen, sich selbst oder eben nur einen Flecken mehr oder weniger unberührter Natur. Allein, der Welt gehen die stillen Orte allmählich aus.

Einsamkeit sucht man seit jeher in den Bergen, in der Wüste, im Wald, auf dem Meer. Abenteurer und Reiseschriftsteller aus Europa finden sie am liebsten in entlegenen Gegenden anderer Kontinente, in der Sahara, in Patagonien, im Himalaja, im Regenwald von Borneo oder am Amazonas. Der deutsche Schriftsteller und Journalist Wolfgang Büscher durchquerte für sein jüngstes Buch Hartland immerhin die ansonsten doch dicht besiedelten USA von Norden nach Süden, großteils zu Fuß. Für die erste Strecke durch North Dakota besorgte er sich einen Revolver, zum Schutz gegen Pumas. Auf fremden Kontinenten scheint es also noch reichlich Stille zu geben, mitten in Europa sind stille Orte, an denen man tagelang keine Menschenseele antreffen muss, gezählt.

Meistgelesen diese Woche:

Der Bieszczady-Nationalpark im Südosten Polens, der letzte Urwald Europas, ein Teil der Waldkarpaten, ist noch so ein einsamer Ort. Ukrainische Rebellen kämpften in dieser abgeschiedenen Gegend noch nach Ende des Zweiten Weltkriegs für ihre Unabhängigkeit von Polen, die polnische Regierung vertrieb daraufhin die ohnehin spärliche Bevölkerung. Nur ein paar Einsiedler kehrten in den folgenden Jahren zurück, auch politisch Verfolgte; später, nach dem Fall des Kommunismus, kamen einige Hippies, Aussteiger und Künstler. Doch die Waldkarpaten gehören immer noch zu den am dünnsten besiedelten Gebieten in ganz Europa. Auf einer Schneeschuhwanderung soll man hier eher einem Wolf oder Braunbären als andern Menschen begegnen.

Der Irati-Wald in Navarra am Fuße der Pyrenäen ist der größte Wald Spaniens; kein Wunder, dass hier immer wieder alle möglichen Leute Zuflucht suchten und auch fanden. Irgendwo auf der spanischen oder französischen Seite der Pyrenäen soll sich seit über dreißig Jahren auch ein berühmter und hoch dekorierter Mathematiker als Eremit verstecken, Alexander Grothendieck ist wohl immer noch auf der Flucht vor einer von ihm aufgedeckten Weltverschwörung.

All die gepeinigten Seelen, die Aussteiger, die Wanderer, die Naturliebhaber – noch finden sie auch in Europa einige wenige abgeschiedene Orte.

Sechs ruhige Reiseziele finden Sie auf der nächsten Seite.

Faial
Hinter der lauten Hafenstadt wird’s ganz ruhig

2000 Kilometer bis nach Portugal, 4000 nach New York: Für Segler auf Weltreise ist die Azoreninsel Faial immer noch ein wichtiger Anlaufpunkt. An der Kaimauer und in den Kneipen der Hafenstadt Horta trifft man sich, dahinter sieht die Insel noch so aus wie vor hundert Jahren: saftig grün. Übernachten: »Pousada da Horta«, DZ ab 80 Euro, Tel. 00351/292/20 22 00, www.pousadas.pt

Bieszczady

So also sieht das Land aus, in dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten einmal 6000 Menschen in den Waldkarpaten in Polens äußerstem Südosten, heute trifft man in den verfallenen Dörfern eher Fuchs, Wisent, Wolf und Braunbär, neben ganz wenigen Einsiedlern. Im Sommer gesellen sich einige Wanderer dazu. Pensionen und Hütten über www.podkarpackie.travel.pl

Porto Santo
Belebter Strand, Grabesruhe in der Inselmitte

Im Juli und August fallen die Festland-Portugiesen ein. Die Schönheit des neun Kilometer langen Sandstrands an der Südküste von Porto Santo hat sich herumgesprochen. Dass man auf Madeiras Nachbarinsel außerhalb der Sommerferien in Frieden wandern kann, ist wenig bekannt. Und es gibt tatsächlich ein Hotel mit Sandtherapien für müde Knochen, wegen der hohen Kalzium- und Magnesiumkonzentration im Inselsand: das Hotel »Porto Santo«, Tel. 00351/291/98 01 40, DZ ab 113 Euro, www.hotelportosanto.com

Lappland
Viel weiter weg in Europa kann man nicht wandern

Sogar 300 Kilometer nördlich des Polarkreises gibt es Blockhütten, zumindest im Nationalpark Pallas-Yllästunturi. Je abgelegener sie liegen, desto weniger kostet ein Schlafplatz; einige sind so weit weg, dass man gratis übernachten darf. Aber auch die abgeschiedenste Hütte hat eine Sauna; www.visitfinland.com oder www.regionarctica.com


Lovcen

Hinter den schwarzen Bergen

Russen haben Montenegro schon immer geliebt. Sie wollen ans Meer, sie haben die ganze Küste aufgekauft. Natur? Berge? Wandern im zweitgrößten Canyon der Welt? Dafür fehlt ihnen und auch den Montenegro-Besuchern aus anderen Ländern noch das Interesse. Wie schön für alle, die die Einsamkeit in den Bergen lieben. Unterkunft über www.visit-montenegro.org

Irati
Der spanische Märchenwald am Fuß der Pyrenäen

Irati bedeutet auf Baskisch Farnwald. Hemingway besuchte ihn 1924, um sich vom Stierkampftreiben im nahen Pamplona zu erholen. Er schwärmte vom letzten mittelalterlichen Wald »mit mächtigen Buchen und jahrhundertealtem Moospolster, auf dem es sich weicher und angenehmer liegen ließ als sonstwo auf der Welt«. Wer dennoch nicht auf ein ordentliches Bett verzichten mag: »Hotel Auñak«, Tel. 0034/948/76 40 58, DZ ab 75 Euro, www.auniak.com

Fotos: DDP, DPA