»Man könnte am Jazz verzweifeln«

Warum gibt es heute kaum noch große Stilisten im Pop und Jazz? Wie beeinflusst das Internet die Kreativität? Der Pianist und Pop-Forscher Ben Sidran spricht über den Niedergang der Popmusik, die mangelnde Textur des digitalen Lebens und sein neues Album, auf dem er Bob Dylan einmal ganz anders spielt.

Foto: Bonsai Music

Ben Sidran ist eine ziemlich einzigartige Figur. Er macht seit vierzig Jahren Musik und ist ein renommierter Pianist und Orgelspieler. Daneben erforscht er die Popkultur jedoch auch unter einem theoretischen Blickwinkel: Er hat einen Doktortitel, lehrte lange an der Universität von Madison, Wisconsin, und schrieb mehrere Bücher zur Pop- und Jazzgeschichte, darunter den Klassiker Black Talk, in dem er als einer der ersten Autoren den soziokulturellen Kontext des Jazz ergründete.

Nächste Woche erscheint sein neues Album Dylan Different; die Platte, man ahnt es, enthält Coverversionen von etlichen Bob-Dylan-Songs. Ich hatte vor einigen Wochen Gelegenheit, mit Sidran zu sprechen und fand nicht nur seine Perspektive auf Bob Dylan interessant, sondern vor allem auch seine Ansichten zur Kreativität im Internet-Zeitalter.

Ben Sidran, auf Ihrem neuen Album spielen sie ausschließlich Dylan-Songs. Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie zum ersten Mal Bob Dylans Musik gehört haben? Na klar! Das war 1962, als sein Debütalbum herauskam. Ich habe damals in einem Plattenladen gearbeitet und sein Album fiel mir gleich auf, obwohl es hauptsächlich alte Folk- und Bluessongs enthält und nur eine Eigenkomposition. Etwas später hatten Peter, Paul & Mary einen Hit mit »Blowin’ In The Wind«. Bis dahin hatten wir ein paar Exemplare von diesem oder jenem Folk-Album verkauft, nun verkauften wir solche Platten auf einmal in rauen Mengen. Ich weiß noch, wie ich im Laden stand und Kiste um Kiste mit Dylan-Platten öffnete. Man merkte deutlich, dass etwas passiert – nicht nur in der Musik, sondern in der Gesellschaft.

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Die Folkmusik wurde von einem Nischenvergnügen zu einem Hit-Genre.
Ja, und nicht nur das. Gleichzeitig wurde aus vereinzelten studentischen Protestgruppen, die Folksongs in der Tradition von Woody Guthrie sangen, eine viel größere Bewegung – die Counterculture.

Wie hat Dylan damals auf Sie gewirkt?
Er ragte heraus, weil er Charisma hatte. Und wegen seiner Stimme: Es war schwierig, sie zu ignorieren. Er hatte eine Art, seine Gedanken mit Hilfe seiner Stimme ins Bewusstsein seiner Hörer zu transportieren, die brandneu war. Bis dahin waren alle Stimmen mehr oder weniger schön – hier war auf einmal eine Stimme, die überhaupt nicht schön war. Wir dachten damals, es sei seine echte Stimme. Später stellte sich heraus, dass er diese Stimme erfunden hatte. Dennoch vermittelte diese erfundene Stimme eine Authentizität und Realitätsnähe, die sehr befreiend war. Und das alles von einem Typen in deinem Alter! Das hatte es bis dahin nicht gegeben.

Eigentlich kamen Sie vom Jazz, oder?
Ja, urbane Musik interessierte mich mehr als die alten Folk- und Bluessongs. Miles Davis, John Coltrane, T-Bone Walker, Bobby Bland. Aber Dylan hat auch mich und meine Freunde beeinflusst, so wie er fast jeden jungen Menschen beeinflusst hat, der damals Musik machte. Vor allem weil er die Leute dazu gebracht hat, eigene Songs zu schreiben. Bis dahin dachte man, so etwas könnten nur professionelle Komponisten. Nach ihm konnte jeder einen Song schreiben.

Sie auch?
Na klar. Ich war damals auf dem College und hatte eine Band zusammen mit Steve Miller und Boz Scaggs. Steve und ich haben beide angefangen, Songs zu schreiben, nachdem wir Dylan gehört hatten.

Die meisten Dylan-Songs auf Ihrem Album sind aus den Sechzigern, aber einige stammen auch von späteren Dylan-Platten. Haben Sie seine Karriere über all die Jahre verfolgt?
Am Anfang habe ich alles gekauft und seine Platten sehr aufmerksam studiert. In den Siebzigern hat das abgenommen. Dylan hat selbst gesagt, dass er nach seinem Motorradunfall erst wieder lernen musste, wie man Songs schreibt; vorher waren sie ihm quasi zugefallen. Ich bevorzuge die Periode seines Schaffens, in der er alles unbewusst gemacht hat.

Wie finden Sie seine jüngsten Platten?
Da gibt es Songs, die mich sehr bewegen, schon allein wegen ihres Klangs. Ich muss allerdings sagen, dass ich seine ganze Karriere sehr bewegend finde. Er hat sich seiner Musik geopfert. Eigentlich ist er Bob Zimmerman, aber er hat diesen Bob Dylan erfunden, eine Fiktion. Seine Stimme ist erfunden. Die Welt, in der er lebt, ist erfunden. Er hat sich durch den künstlerischen Prozess transformiert. Das ist gefährlich, weil man nicht weiß, was dabei herauskommt.

Die Hingabe an seine Musik scheint auch der Grund für seine Never-Ending-Tour zu sein. Er sieht es als seine Lebensaufgabe an, Nacht für Nacht seine Lieder zu singen.
Ich glaube, es geht nicht nur um die Songs. Im Zentrum seines Lebens scheint etwas zu fehlen. Er hat keine Heimat.

Wie hat Ihnen seine Theme Time Radio Hour gefallen?
Die Sendung hat gezeigt, wie sehr er Musik liebt und wie gut er sich damit auskennt. Er ist ein großer Musikexperte und eifriger Forscher. Es war toll, ihm zuzuhören.

»Es ist inzwischen schwierig, ein authentisches Leben zu leben, und deshalb auch schwierig, einen eigenen Stil zu entwickeln«

Sie selbst sind ebenfalls Musiker und zugleich Historiker. Wie kam es dazu?
Ich wollte überhaupt nicht Musiker werden, sondern Geschichtsprofessor. Als Steve Miller und Boz Scaggs in San Francisco die Steve Miller Band gegründet hatten, riefen sie mich an und luden mich ein, bei ihnen mitzumachen. Ich habe abgelehnt, ich wollte lieber nach England gehen und meinen Doktor machen. Es war dann ein großer Zufall, dass sie ihre erste Platte ausgerechnet in England aufgenommen haben, so dass ich trotzdem darauf mitspielen konnte. 1971 hatte ich meinen Doktor und wollte eigentlich an der Uni anfangen, aber ich ging stattdessen nach Los Angeles und begann, Platten zu machen. Ein paar Jahre später bin ich dann von L.A. zurück nach Madison, Wisconsin gezogen, weil es meiner Frau in Kalifornien nicht gefiel. Seitdem mache ich beides parallel: Musik und an der Uni lehren.

Wie beeinflusst die musikalische Vergangenheit heute den Pop der Gegenwart?
Leider ist das kulturelle Gedächtnis eher kurz. Die Vergangenheit ist immer irgendwo da, aber nicht besonders präsent. Viel Authentizität ging verloren. Das ist besonders auffällig bei der schwarzen Musik. Denken Sie nur an Rap: Das begann als authentische Sache, aufgezogen von einer kleinen Gruppe von Musikern in der Bronx. Dann wurde Rap aber sehr schnell von der Musikindustrie vereinnahmt. Die Stars haben Lebensläufe konstruiert, die auf Gewalt und Anti-Intellektualismus basierten und all die Errungenschaften der Vergangenheit verneinten. Im Rap gibt es heute kaum noch jemand, der verstehen möchte, in welchem geschichtlichen Kontext er steht.

Andererseits ist es heute so einfach wie nie zuvor, mit den Meistern der Vergangenheit in Kontakt zu treten. So gut wie jeder irgendwie interessante Musiker ist inzwischen auf CD erhältlich oder leicht im Internet zu finden.
Das ist kein echter Reichtum, sondern nur der Anschein von Reichtum. Es ist zwar alles da, aber wo fängt man an? Was soll man hören? Wenn man nicht weiß, wer man selbst eigentlich ist und was für Interessen man hat, geht man in dieser Fülle unter. Es geht heute nicht darum, was draußen zu finden ist, sondern darum, was in dir drinnen zu finden ist. Und dabei hilft dir das Internet überhaupt nicht.

Vielleicht beschreibt das, was Sie sagen, nicht nur das Dilemma des Konsumenten, sondern auch das des modernen Musikers. Ich habe manchmal den Eindruck, dass etliche Musiker früher aus einer reicheren Lebenserfahrung schöpfen konnten.
Ich denke, es kann keinen Zweifel daran geben, dass dem digitalen Leben die Textur fehlt. Es geht nicht nur um den Anschein von Fülle, sondern auch um die Künstlichkeit der sozialen Bindungen. Man glaubt, man sei überall, ist tatsächlich aber nirgends. Für einen jungen Menschen heute ist es sehr schwierig herauszukriegen, wer er wirklich ist, was sein authentisches Selbst definiert. Er wird Tag für Tag mit Informationen und Konsumangeboten bombardiert und muss inmitten dieses Strudels die Dinge finden, die ihn wirklich beschäftigen.

Zur Vorbereitung auf dieses Interview habe ich wieder in Ihrem Buch Talking Jazz. An Oral History geblättert, das Interviews mit vielen der bedeutendsten Jazzmusiker enthält. Ich war beeindruckt, wie viel Weisheit in den Worten dieser Könner liegt. Sie hatten nicht nur die Musik gemeistert, sondern auch ihr Leben.
Ja, ist das nicht interessant? Diese Leute haben gelernt, ihr Leben zu meistern – und ihre Musik hat das gespiegelt. Sie alle hatten das Leben verstanden. Sie haben sich nicht in der Informationsflut verzettelt, sondern wussten, was wichtig ist. Heute haben die jungen Musiker vielleicht zu viele Informationen. Sie sind technisch sehr gut und wissen genau, wie sie ihr Instrument bedienen müssen. Aber es ist inzwischen schwierig, ein authentisches Leben zu leben, und deshalb auch schwierig, einen eigenen Stil zu entwickeln. Früher hatten viele Musiker einen eigenen Stil, begründet in ihrem individuellen Blick aufs Leben. Das kann natürlich immer noch funktionieren, aber unsere Kultur fördert es nicht mehr und zwingt auch niemanden mehr dazu. Wenn man in den Sechzigern einen alten Musiker um Rat gefragt hat, lautete die Antwort: Das wichtigste ist, du selbst zu sein. Das ist immer noch die entscheidende Botschaft, aber die vernimmt heute kaum noch jemand.

Sie hatten für Talking Jazz wirklich fantastische Interviewpartner: Miles Davis, Dizzy Gillespie, Sonny Rollins, Betty Carter, Max Roach, Herbie Hancock... Gab es ein Interview, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Eines? Das ist hart. Es war natürlich toll, einen Tag lang bei Miles Davis zu Hause zu sitzen und mit ihm über seine Karriere zu reden. Auch das Interview mit Pepper Adams war für mich sehr eindrücklich. Der ist nicht so berühmt, vielleicht war es deshalb so profund zu erfahren, wie er sich durchgeschlagen und seine Musik am Leben gehalten hat. Sonny Rollins war unglaublich bescheiden. Ich war überrascht von seiner Demut.

Ist es nicht schön, dass er immer noch spielt!
Er ist die Verbindung zur ersten Generation der BeBop-Musiker. Er war dabei. Kennen Sie den Song »Compulsion«, erschienen auf Prestige? Diese Aufnahme liebe ich! Philly Joe Jones am Schlagzeug, Miles an der Trompete, Sonny Rollins, damals vielleicht 19, und Charlie Parker am Saxophon. Zuerst spielt Charlie Parker ein Solo, dann Sonny Rollins – Mann, war der phänomenal! Als 19-Jähriger!

Wie sehen Sie den Jazz heute?
Man könnte dran verzweifeln. Einerseits versuchen viele, Norah Jones zu kopieren. Auf der anderen Seite habe viele junge Musiker kein Interesse mehr am Swing, sondern wollen komplexe Harmonien und Rhythmen spielen. Das sind zwei Seiten derselben Medaille – und beides zeugt von Verzweiflung. Der ganze Sinn des Jazz, so haben es die Meister zumindest gesagt, liegt darin, seine eigene Geschichte zu erzählen. Das sind die Worte, die Quincy Jones benutzt hat, dasselbe hat auch Coltrane gesagt: »When I hear a man’s sound, that to me is his contribution.« Mit all diesen kommerziellen Möglichkeiten, die in der Welt von Norah Jones bestehen, und all den akademischen Möglichkeiten, die die Universitäten bieten, ist es heute sehr schwierig, seine Stimme zu finden und seine Geschichte zu erzählen. Das geht eigentlich nur, wenn man rausgeht und sein Leben lebt. Wenn man Musik nur als Geschäft betrachtet, und nicht als Lebensinhalt, wird man die Stimme nicht finden – egal, wie talentiert man ist. Es geht nicht um das Wie der Töne, sondern um das Wann und das Warum. So war es schon immer, und so wird es immer bleiben.

Stimmt es eigentlich, dass Charlie Watts auf Ihrem ersten Demo gespielt hat?
Ja, stimmt.

Unglaublich! Wie kam es dazu?
Ich habe in England Glyn Johns kennengelernt, der damals die Stones produziert hat. Ich war bei einigen ihrer Sessions dabei. Ich habe damals in Brighton gelebt und Charlie wohnte ganz in der Nähe, in einem Ort namens Lewis. Er hatte keinen Führerschein, und so habe ich angeboten, ihn im Auto mitzunehmen. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal zu seinem Haus gekommen bin, einem ziemlich imposanten Anwesen. Er machte die Tür auf und im Hintergrund lief Kind Of Blue. Ich sagte: »Tolle Musik, Charlie. Nimm’s mir nicht übel, aber die Stones höre ich eher selten.« Er antwortete: »Geht mir genauso« Er ist ein großer Jazzfan, so haben wir uns angefreundet.

Sie scheinen ein Händchen für legendäre Drummer zu haben: In den Siebzigern taten sie sich mit Clyde Stubblefield zusammen, dem funky drummer von James Brown, zu hören auf Klassikern wie »Cold Sweat« und »Papa’s Got A Brand New Bag«.
Das ist eine unglaubliche Geschichte. Ich war 1972 wieder zurück in Madison, Wisconsin, und spielte in einem Club, als Clyde Stubblefield einfach zur Tür hereinkam. Er war kurz zuvor bei James Brown ausgestiegen und zu seinem Bruder gezogen, der in Madison lebte. Ich wusste natürlich, wer er war – the funky drummer himself. Er fiel mir praktisch in den Schoß. Für die nächsten zehn Jahre hat er nur mit mir gespielt. Es war fantastisch. Wir haben anderthalb Stunden lang nur einen einzigen Song gespielt – die Leute sind durchgedreht.

Auch für ihn war es bestimmt ein großes Glück, Sie zu treffen. Damals dürfte es wenige Leute gegeben haben, die seine Klasse zu schätzen wussten.
Ja, genau. Er nannte mich seinen Mentor, weil ich ihn mit Leuten wie Phil Upchurch bekanntgemacht habe. Ich habe ihn auch einmal nach Chicago mitgenommen, als ich mit Tony Williams aufgenommen habe. Tony war begeistert, Clyde zu treffen, aber ich vermute, Clyde wusste nicht so genau, wer Tony war.

Phil Upchurch! Den habe ich im Herbst gesprochen. Er ist immer noch gut im Geschäft, zu hören auf den letzten Alben von Bob Dylan und Smokey Robinson.
Phil Upchurch ist ein Kämpfer! Der lässt sich nicht unterkriegen. Wir sind seit 1972 befreundet und ich bin sehr glücklich darüber, dass er immer noch dabei ist.

Ben Sidrans neues Album »Dylan Different« erscheint am 16. Juni. Sein Buch »Talking Jazz. An Oral History« kam 1992 heraus und ist bis heute erhältlich.